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#gedankenzummitnehmen - Teil 48

Frei von Steuerflucht

„Fair Trade“, „aus biologischem Anbau“, „keine Produkte auf Mineralölbasis“, „frei von Mikroplastik“, „vegan und tierversuchsfrei“. Produktsiegel sind für Konsument*innen wichtig. Nicht nur zum Verbraucherschutz, sondern auch im Bezug auf die Klimakrise oder die Wahrung von Tier- und Menschenrechten.

In einer globalisierten, kapitalistischen Welt reicht die Lieferkette eines Endprodukts ziemlich weit. Für mich als Konsumentin ist es weder trivial noch nachverfolgbar, wie ein Produkt hergestellt wurde. Ich möchte die Möglichkeit haben, Waren zu vermeiden, die Mensch und Umwelt ausbeuten. Aber mir fehlt als Konsumentin die Information, ob ein Hersteller kriminelle Energie an den Tag legt, wenn es um Finanzen geht.

In Deutschland existiert kein Produktsiegel, das Unternehmen zwecks Steuerhinterziehung, bzw. Steuervermeidung einstuft. Ist doch nicht so wichtig? – Doch! Nehmen wir an, ich kaufe mir gerne Eis eines Lebensmittelherstellers, der konsequent nur vegan, bio und fairtrade produziert. Damit habe ich zwar auf Nachhaltigkeit geachtet, aber dennoch Ausbeutung in letzter Konsequenz nicht ausgeschlossen. Denn auch der vegane Bio-Lebensmittelhersteller könnte Gewinne durch europäische Steueroasen wie Luxemburg, Malta, Zypern oder Irland leiten und den Staat eine enorm hohe Zahl an Steuergeldern kosten.

Steuervermeidung bleibt in der Vorstellung gerne mal abstrakt: An welcher Stelle steht das Individuum in der Kausalkette? Oder ganz plump gefragt: Merken wir das Fehlen dieser Steuergelder überhaupt im Alltag? Durchaus – nämlich in jenen unvermeidbaren Situationen, in denen wir auf staatliche Institutionen angewiesen sind: Polizei, Justizapparat, Bildung und Infrastruktur. Situationen, in denen wir als Bürger*innen merken, dass diese steuerfinanzierten Institutionen teilweise alles andere als gut versorgt sind.

Ethische Standards schließen den Umgang von Unternehmen mit Steuergesetzen ein. Konsument*innen verdienen es, auch über diesen Aspekt der Wertschöpfungskette aufgeklärt zu werden.
#gedankenzummitnehmen - Teil 47

Der bessere Mensch

Es wird alles anders, sobald am 1. Januar die Stunde schlägt? – Das Problem mit Neujahrsvorsätzen ist ja, dass sie meistens noch in derselben Nacht gebrochen werden. Mit dem Rauchen aufhören? – Aber die Neujahrszigarette … Erst mal Zuckerkonsum reduzieren – Aber die Knabbereien von Weihnachten liegen noch herum. Vielleicht liegt das Problem darin, dass wahre Veränderung nichts ist, was man sich anlässlich eines hohen Feiertags vornimmt, sondern ein langer Prozess, an dessen Ende ein „Jetzt sofort oder nie“ steht. Oder anders gesagt: Wer wirklich mit dem Rauchen aufhören will, wartet nicht erst bis zum 31. Dezember, sondern schmeißt den Tabak schon vor dem Nikolaustag weg – ganz gleich, ob dann die Weihnachtszeit noch etwas stressiger wird. Oder aber all diese Vorsätze sind ein Paradebeispiel an halbherziger Selbstoptimierung – zwar wollen wir keine wahre Veränderung, aber über uns hängt der Anspruch, wir müssten doch im nächsten Jahr eine bessere, vorzeigbarere, erfolgreichere Person sein.

Schade eigentlich, weil keine dieser To-dos etwas daran verändert, wie wir mit uns und mit anderen Menschen umgehen. Aber vielleicht zur Abwechslung mal ein paar Inspirationen:
  1. Ich nehme mir vor, andere Menschen seltener zu unterbrechen. Gleichzeitig möchte ich mir auch nicht mehr das Wort abschneiden lassen, wenn ich etwas Wichtiges zu sagen habe.
  2. Wenn jemand mir ungefragte, unangebrachte Ratschläge erteilt, werde ich in Zukunft nicht mehr höflich-distanziert nicken. Das werde ich aber auch nicht tun, wenn jemand anderes in meiner Nähe mit ungewollten Tipps überhäuft wird.
  3. In Zukunft möchte ich die Zeit von anderen mehr wertschätzen, in dem ich meine Termine im Griff habe und niemandem meine schlechte Laune aufzwinge. Gleichzeitig traue ich mir zu, eine Runde zu verlassen, in der ich mich nicht gut amüsiere. Man muss sich nicht immer mögen.
#gedankenzummitnehmen - Teil 46

Faktencheck

Oh, ich weiß, diese Frage ist mies. Sie tut weh. Schon okay, ich weiß, auf deinen Schultern liegt der Weltschmerz und du trägst ihn jeden Tag. Diese Folge schreibe ich auch nicht, um mit dem Finger auf dich zu zeigen oder dich aufzufordern, dir noch mehr aufzuladen. Im Gegenteil: Ich bitte dich eher darum, deinen Weltschmerz auf den kleinsten gemeinsamen Nenner herunterzubrechen, den du mit anderen Menschen teilen kannst. Denn sonst lähmt er dich.

Doch zuvor muss ich zwei Begriffe vorstellen: Der erste lautet „political hobbyism“, bzw. politischer Hobbyismus. Der Ausdruck geht auf Prof. Eitan Hersh zurück (Autor von „Politics is Power“) und beschreibt ein recht merkwürdiges, doch sehr verbreitetes Phänomen: Viele gebildete Menschen investieren einerseits viel Zeit, um im tagespolitischen Geschehen mitzukommen, haben aber andererseits „keine Zeit“, sich ehrenamtlich in ihrer direkten Umgebung zu engagieren. Der zweite Begriff lautet „agency“ – man könnte ihn auf Deutsch mit „Handlungsfähigkeit“ übersetzen, aber das ist ein wenig vage. Agency im Bezug auf gesellschaftspolitische Fragen bedeutet für mich, weg vom politischen Hobbyismus zu kommen, von Weltschmerz zum kleinsten gemeinsamen Nenner. Ein paar Beispiele:

  1. Du bist Feminist*in. Das Thema geschlechterbezogene Diskriminierung macht dich wahnsinnig wütend. Die zehnte Netflix-Doku über die Gender Paygap zu schauen, ist jedoch kaum mehr als Ausdruck deines Weltschmerzes (Verrät sie dir wirklich neue Fakten?). In einem feministischen beruflichen Netzwerk ein Ehrenamt zu übernehmen mit all den anstrengenden Verpflichtungen, das ist Agency. Alternativ kannst du auch für eine jüngere Frau mit weniger Erfahrung die Mentorin sein, die du dir selbst gewünscht hättest.
  2. Die Müllinsel im Pazifik lässt dich nicht schlafen – ich verstehe das. Aber davon, dass du dir nachts Fotos auf Google Earth ansiehst, wird sie nicht kleiner. Versuche, den Weltschmerz über die Zerstörung der Natur herunterzubrechen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner: Wie sauber ist die Stadt, in der du lebst? Viele Gemeinden organisieren zum Beispiel einen Frühjahrsputz, bei dem du dir Müllsack und Kehrschaufel schnappen und mitmachen kannst. Oder falls nicht: Organisiere selbst eine Aufräumaktion in deinem Stadtteil und bitte die Gemeinde um Unterstützung. Und fange klein an, indem du deinem Nachbarn sagst, er soll endlich mal den Müll richtig trennen.
  3. Du sorgst dich um die psychische Gesundheit junger Menschen und fragst dich, wie die nächste Generation mit Themen wie Chancenungleichheit, Umweltkrise, neuen Medien, etc. umgeht – verständlich. Politischer Hobbyismus wäre es, rezutweeten, wie viele Kinder bereits unter Angst oder Depressionen leiden. Agency wäre es, wenn du Hand in Hand mit anderen Menschen an Schulen deiner Umgebung Veranstaltungen zu mehr Aufklärung über psychische Erkrankungen organisierst. Oder aber du sammelst Spenden für gemeinnützige Vereine, die das längst tun.
Falls du auf ein Zeichen gewartet hast: Hier ist es.
#gedankenzummitnehmen - Teil 45

Wir müssen reden

Eigentlich habe ich wirklich keine Lust, den X-ten Text über Corona zu schreiben. Eigentlich haben wir die Argumente für eine Impfung oft genug durchgekaut und es ist schon alles gesagt. Eigentlich, eigentlich.

Aber nun sage ich doch etwas, weil es mir unter den Nägeln brennt. Als vor Wochen die Zentren für kostenlose Tests schlossen, mit dem Gedanken, Ungeimpften einen Schubs zu geben, fand ich das nicht gut. Ich fragte mich: Und wenn ich zusätzlich zu meinem Impfschutz Tests machen will, um meine Mitmenschen zu schützen? Und wenn Ungeimpfte vielleicht an jenem Test gehindert werden, der zwischen ihnen und einer Infektionskette steht? Jetzt sind die Inzidenzen in schwindelerregende Höhen geschossen. In meinem engeren Freundeskreis sind Coronatests, für die wir selbst aufkommen, wieder das Procedere, weil ein paar meiner Kontaktpersonen trotz Impfung das Virus definitiv nicht bekommen dürfen. Was ist mit den Menschen, die es sich nicht leisten können, pro Woche ein paar Tests aus eigener Tasche zu bezahlen?

Und ja – ich befürworte Impfungen, habe selbst nicht einmal einen Wimpernschlag lang gezögert, als ich an die Reihe kam. Und dennoch dreht sich mir der Magen um, wenn in Österreich eine Ausgangssperre für Ungeimpfte verhängt und zu Joshua Kimmich ein eigener Liveticker eingerichtet wird. Ich heiße die Haltung, sich ohne medizinische Kontraindikation nicht impfen zu lassen, nicht gut. Das dürfte jedem, der mich kennt, klar sein. Wie soll ich das Pochen mancher Ungeimpfter auf ihre individuelle Freiheit ohne Widerspruch durchwinken, wenn einige Menschen sich gerne impfen lassen würden, aber aufgrund von Immunschwäche nicht dürfen? Wenn Ärzt*innen und Pfleger*innen einfach nicht mehr können nach fast zwei Jahren Ausnahmezustand? Wenn viele Kinder nach wie vor unter der Situation psychisch leiden, weil alles – Schule, Sport, Freunde – ihnen wieder weggenommen werden kann?

Und dennoch finde ich die aktuelle Tendenz, Geimpften und Genesenen das öffentliche Leben zur Verfügung zu stellen und Ungeimpfte weiter unter Druck zu setzen, schwierig. Ich habe Zweifel daran, dass man dem Unwillen der ungeimpften Menschen beikommt, indem man ausgrenzt, mit dem Finger auf sie zeigt und wie eine hängende Schallplatte rationale Argumente herunterrattert. Argumente, die wir längst alle kennen, wenn wir ab und zu Zeitung lesen. In Deutschland sind ca. 67% der Menschen vollständig geimpft. Ich gehe davon aus, dass viele von uns Impfskeptiker nicht nur in der Theorie, sondern im Privatleben kennen. Die Skeptiker (nicht automatisch Coronaleugner, das ist ein Unterschied!), die ich persönlich kenne, hatten in erster Linie Angst. Sie brauchten jemanden, der sie auf emotionaler, anstatt auf rationaler Ebene ernstnahm. Die meisten von ihnen ließen sich letztendlich trotz Widerwillen impfen – sie brauchten Empathie, nicht die perfekte Argumentationskette.

Manche von uns sind zu ausgebrannt von der Coronazeit, um diese Art von Gesprächen noch zu führen: Eltern, die schon viel zu lange auf alles verzichten, im Sinne ihrer Kinder. Menschen mit einer Risikoerkrankung, die einfach gerne wieder ihr Leben zurück hätten. Und das verstehe ich vollkommen. Aber das wäre dann der Zeitpunkt für Menschen wie mich, akademisiert, ohne Vorerkrankung, relativ privilegiert im Homeoffice, die eigene Wut zu zügeln, die Gespräche zu suchen, die geführt werden müssen. Und darauf zu hoffen, dass im Kopf-an-Kopf-Rennen Empathie gegen Angst gewinnt.
#gedankenzummitnehmen - Teil 44

Kinky!

Nein, diese Überschrift ist kein Clickbait – doch dass es sich wie eines liest, ist Teil des Problems. Der Bezug zur Sexualität war bei den meisten Millenials in der Jugend entweder durch Prüderie oder Übersexualisierung bestimmt: Auf der einen Seite der konservative Aufklärungsunterricht in der Schule, in dem ein peinlich berührter Biolehrer Holzpenisse und Kondome verteilte. Auf der anderen Seite Pornos leicht zugänglich; in der Oberstufe klatschten viele Mädchen ihr Exemplar von „Fifty Shades of Grey“ mitten auf den Schreibtisch. Progressivere Medien wie die Netflix-Serie „Sex Education“ waren noch Zukunftsmusik. Daran hat sich in der Zwischenzeit einiges geändert. Wer jetzt zwischen 20 und 35 ist, weiß manchmal über das Intimleben der anderen erstaunlich viel. Entweder aus Pornos, Dating Apps, den zurzeit sehr beliebten Sexpodcasts oder aus dem persönlichen Umfeld. Manche Nutzer*innen von Dating Plattformen schreiben sich ihre Kinks sogar direkt in die Bio und fragen ihre Matches nach drei Sätzen, was sie tun oder eben nicht.

Nicht falsch verstehen: Darüber reden ist gut, wenn wir uns damit vor einem verzerrten Selbstbild oder vor schlechten Erfahrungen schützen. Gesund, um von den Enttäuschungen zu heilen. Aber können wir uns darauf einigen, dass Sex Positivität auch heißt, erst einmal nachzufragen, ob die Person, die einem gegenübersitzt, überhaupt über Beziehungen und Sex reden möchte? Und dass es nicht sehr rücksichtsvoll ist, einfach so intime Details von sich selbst und anderen auszuplaudern? Vielleicht hat die vermeintlich zugeknöpfte Person auf der Party ganz gute Gründe dafür, kein angetrunkenes, sassy Ich-hab-noch-nie zu spielen. Möglicherweise will deine Bekannte nicht, dass du ihr in aller Ausführlichkeit deine Beziehungsprobleme schilderst. Oder vielleicht wollen auch deine besten Freunde nicht unbedingt von dir wissen, ob es jetzt endlich mit den Fesselspielchen geklappt hat oder du auf erotische Hörspiele stehst. Zumal sich ein persönliches Gespräch, anders als der Sexpodcast, nicht einfach so ausschalten lässt.

Ich meine es wertschätzend, wenn ich sage, dass es eine Ressource ist, offen über Intimität reden zu können. Aber es gibt auf dieser Welt auch Menschen, die gerade keine Lust auf eine Beziehung haben. Die sich vielleicht gar nicht für Sex interessieren. Die sich gerade erst finden müssen, weil sie schlechte Erfahrungen gemacht haben. Oder die ihr Liebesleben einfach gerne für sich behalten. Und wenn du diese Menschen nicht in Frieden lassen kannst und Oversharing von der Bettkante aus erzwingst, bist du nicht open-minded. Sondern übergriffig.
#gedankenzummitnehmen - Teil 43

Go to therapy

Letzte Woche war der #wordmentalhealthday, ein Tag, an dem jährlich Menschen aus aller Welt Raum bekommen, über ihre persönliche Geschichte mit psychischer Erkrankung zu sprechen. Und ich bin erstaunt wie erfreut zu sehen, dass der eiserne Griff des hartnäckigen Stigmas sich langsam lockert, um neuen Narrativen Platz zu machen.

Prinzipiell halte ich Psychotherapie für ein Geschenk an die Menschheit. Sie macht das Leben von vielen besser. Aber zur Offenheit gehört es eben auch, über die Fallstricke im System Psychotherapie zu sprechen. Dankbar für unser Gesundheitssystem und für die Arbeit kompetenter Therapeut*innen zu sein, bedeutet nicht, sämtliche Kritik hinter dem Berg halten zu müssen. Oder die Geschichten zu verschweigen, die nicht in mental-health-matters-Kampagnen passen. Und das möchte ich auch nicht.

Also ist das für alle ...
...psychisch Kranke, die keinen Therapieplatz finden und fanden.
...Ex-Patient*innen, die missbräuchliche Erfahrungen mit Behandlern oder in Kliniken machen mussten.
...die feststellten, dass die Psychotherapie in der Krise nicht half.
...die durch Therapie zwar eine Besserung, aber keine Heilung erreichen können.
...die sich nicht wohl damit fühlen, über ihre psychischen Probleme zu sprechen.

Eure Geschichten gehören auch zur Realität und sind wichtig für eine Zukunft, in der Menschen die Hilfe bekommen, die sie verdienen. Ich sehe euch.
#gedankenzummitnehmen - Teil 42

Versagen der Menschlichkeit (CN)

In Texas wurde unlängst das sogenannte Herzschlag-Gesetz erlassen, das einen Schwangerschaftsabbruch unter Strafe stellt, sobald ein Herzschlag beim Fötus zu hören ist. Das kann jedoch bereits sechs Wochen nach der Zeugung der Fall sein – ein Schlag ins Gesicht für alle Frauen, vor allem da Ausnahmen nur bei medizinischen Notfällen, nicht aber bei Inzest oder Vergewaltigung gelten. Und als wäre dieses Gesetz nicht schon fragwürdig genug, bekam es noch einen totalitären Zusatz. Wenn Privatpersonen zivilrechtlich gegen eine schwangere Frau vorgehen, die einen Abbruch außerhalb der sechswöchigen Frist plant, können sie mit bis zu 10.000 Dollar belohnt werden. Nach zahlreichen Demonstrationen auf den Straßen von Texas, der Bemühungen des NGO Planned Parenthood und der angekündigten Unterstützung durch Präsident Joe Biden verklagte das amerikanische Justizministerium den Staat Texas. Ausgang ungewiss.

Die politische Bewegung, die seit den 1970-er Jahren gegen legale Schwangerschaftsabbrüche arbeitet, nennt sich Pro-Life (das feministische Gegenstück heißt Pro-Choice). Aber diese Bezeichnung „Für das Leben“ kann man spätestens, wenn man von Entwicklungen wie dem Herzschlag-Gesetz hört, nicht mehr ernstnehmen. Wo bleibt das Leben, die Menschlichkeit, wenn minderjährige Mädchen zu einer Schwangerschaft gezwungen werden? Wenn junge Paare keine freie Sexualität erleben dürfen, ohne in Angst zu leben, eine Verhütungspanne das restliche Leben lang bereuen zu müssen? Wenn Frauen, denen sexualisierte Gewalt widerfahren ist, keine Hilfe bekommen, sondern sogar Ziel einer 10.000 Dollar-Kopfgeldjagd werden können?

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem Bekannten, der meinte, er heiße autoritäre Gesetze nicht gut, wünsche sich aber, dass Frauen im Idealfall gar nicht erst in die Lage kämen, einen Abbruch durchführen zu müssen. No surprise – das wünschen sich die meisten Frauen in eigenem Interesse auch, aber wo bleiben die notwendigen Maßnahmen? Die frei zugängliche, kostenlose Verhütung? Die finanzielle Unterstützung von Frauenhäusern und sonstigen Organisationen, die Frauen in Not helfen?

Ich weiß, insgeheim denken wir vielleicht, das alles habe mit uns nicht viel zu tun. Doch auch hier gibt es seit Jahren laute Rufe, Paragraf 218/219a endlich streichen zu lassen. Ein sexistischer Abtreibungsparagraf, der Aufklärung über den Abbruch auf ärztlichen Homepages als „Werbung“ unter Strafe stellt, und zwar eine 12-wöchige Frist zugesteht, aber den Abbruch nur nach einem Beratungsgespräch offiziell entkriminalisiert. Und dass wir es nach so vielen Jahren immer noch nicht geschafft haben, den Paragrafen zu streichen, sagt vieles aus. Ebenso wie die Tatsache, dass in der ach-so-progressiven Universitäts- und Medizinstadt Heidelberg nicht einmal das Uniklinikum Abbrüche nach der Fristenregelung vornimmt (nur bei medizinischen Notfällen), sondern nur zwei Praxen einen medikamentösen Abbruch anbieten (siehe hier, zuletzt abgerufen am 13.09.2021). Zwei Gynäkolog*innen, die aus Angst vor Angriffen durch „Lebensschützer“ lieber anonym bleiben wollen. Texas ist manchmal näher, als wir denken.
#gedankenzummitnehmen - Teil 41

Wahlen

Wer es aktuell schafft, die Nachrichten auf Bundesebene mitzuverfolgen, ohne Schnappatmung zu bekommen – Respekt. Deswegen 3 Dinge, die im Bezug auf die Wahlen helfen:

  1. „‘ne gute Stunde mit Eva Schulz“ hören: Im Chaos darüber, welche Partei was verwirklichen und wer mit wem koalieren will, interviewt die Journalistin, die auch den funk-Kanal „Deutschland 3000 betreibt, alle drei Kanzlerkandidaten. Heute Nachmittag um 17 Uhr geht es los mit Olaf Scholz.
  2. Wahlprogramme lesen: Ein guter Realitätscheck. Unfreiwillig komisch liest sich jedoch bei sämtlichen Parteiprogrammen das Wording. Die CDU hat eine Vorliebe für „Stabilität“, die SPD für „Zukunft“, die Linke für „Gerechtigkeit“, die FDP für „Chancen“, während die Grüne auf ein vermeintliches „Wir“ pocht. Was damit jeweils gemeint ist – wer weiß. Wenig überraschend ist, dass die AFD sehr viel darüber spricht, was „normal“ und „national“ sei. Na ja.
  3. Der eigene Realitätscheck: Ich weiß, wir halten uns alle für demokratisch, tolerant und weitblickend. Wenn wir aber aus allen Wolken fallen, weil ein Familienmitglied CDU wählt oder weil im Lokalteil der Zeitung Leserbriefe sich gegen die Grünen wenden, schauen wir vielleicht zu wenig über die Grenzen der eigenen Bubble hinaus. Es geht nicht darum, entgegengesetzte politische Werte plötzlich gut zu finden. Aber wir müssen uns klar machen, dass sie nicht eine anonyme Zahl in der Wahlstatistik darstellen, sondern Menschen, mit denen wir zusammenleben. Jeden Tag.
...und 3 Dinge, die im Bezug auf die Wahlen nicht helfen:

  1. Der feministische Wahl-O-Mat „Wahltraut“: Ja, ich bin Feministin und wünsche mir die Abschaffung sexistischer Gesetzte sowie die Förderung von Geschlechtergerechtigkeit. Aber zu viele Fragen des Katalogs sind ausgesprochen vage formuliert.
  2. Social Media als Bewältigungsstrategie: Bevor du all deinen Frust über die Wahlen spontan in deine instastory, deinen Twitteraccount, usw. packst – lass es. Investiere die Zeit, um Spenden zu sammeln für Menschen, die jetzt gerade in Not sind oder engagiere dich als Wahlhelfer*in. Das ist besser.
  3. Zynismus: Bin ich qualifiziert, diesen Rat zu geben? You’ve got me – aber vielleicht lasse ich meine eigene Erfahrung sprechen, wenn ich sage, dass Zynismus vielleicht auf kurze, aber nicht auf lange Zeit weniger kostet. Ideale sind ein wichtiger Motor – dafür, erneut das Gespräch zu suchen, doch noch darüber nachzudenken, was man tun kann. Im Ernst.
#gedankenzummitnehmen - Teil 40

Weit weit weg

Dass diese Idee mit den Kurzstreckenflügen und den E-Autos der Grünen durchginge, das wäre ja was, murmelte der Berater auf der anderen Seite des Schreibtisches erbost. Und dann noch der Genderwahn, also wirklich. Und ich könne meine Maske doch ruhig abnehmen, das sei doch gelaufen mit der Pandemie, alles total übertrieben.

Ich gähnte genervt. Es war fünfzehn Uhr an einem heißen Julitag, ein bürokratischer Beratungstermin in einem Büro mit aprikosengelb gestrichenen Wänden; im Hintergrund ratterte ein Ventilator. Mir gegenüber saß der bärtige Berater mit Hornbrille und schlecht gestochenen Tribal Tattoos, die Ärmel des modischen Hemds hatte er hochgekrempelt. Sein erhöhter Redebedarf hatte herzlich wenig mit meiner Angelegenheit zu tun – weswegen ich nach fünf Minuten seinen politischen Monolog, den ich vage in Richtung AFD/Querdenker einordnete, im Keim erstickte.

Einen Tag später saß ich bei einer Freundin auf ein Glas Wein und erzählte von dieser Episode. Irritiert unterbrach sie mich und kommentierte: „Oha, krass, so ein Beratertyp war AFD-Wähler, in Heidelberg?“ Sie wirkte sichtlich verwirrt. Darüber, dass einem politisch rechts gesinnte Menschen nicht nur in erhitzten Kommentarspalten unter SZ-Artikeln oder Y-Kollektiv-Dokus begegnen können, sondern auch im Alltag. So als seien Wahlstatistiken, Meldungen über Demonstrationen und Umfragen zur Impfbereitschaft etwas Abstraktes, als verschwänden die Prozentzahlen einfach in der Stratosphäre. So als sei das eine Meldung fern der eigenen akademischen links-grünen Blase, die mit dem alltäglichen Leben im bunt gemischten und international geprägten Heidelberg nichts zu tun hätte. Zwar hätte ich mich diese Abwehrhaltung überraschen müssen – tat es aber nicht.

Die Vorstellung, die politischen Gräben zwischen dem, was wir heute als „rechts“ und „links“ bezeichnen, das Dilemma mit Fake News und der Medienkompetenz sowie die Spaltung seien furchtbar weit weg, kommen mir vor wie der letzte Schritt auf einer sehr langen Skala der Verdrängung. So als käme nach „Die ganzen AFD-Wähler/Impfgegner sind ja nur dumm/irre/gestört“ und nach „Die sind doch alle nur im Osten“ zum Schluss das „Ja, schon, die gibt es. Aber nicht hier bei uns!“

Ich will nicht behaupten, es gäbe einen „richtigen“ Umgang: Sich mit politischen Bewegungen konfrontiert zu sehen, die gegen das eigene Wertesystem gehen. Radikalisierung zu ertragen, wenn sie Dinge untergräbt, die für unser Zusammenleben wichtig sind. Aber ich misstraue dem „Dieser Raum ist frei von jener Radikalisierung“-Etikett doch sehr. Denn es erinnert mich an ein Kind, das sich die Augen zuhält und sich wünscht, es möge in seiner Bedrängnis doch bitte sofort unsichtbar werden.
#gedankenzummitnehmen - Teil 39

Brot und Kuchen

Im Grunde schreibe ich seit meiner Jugend. Beruflich schreibe ich seit etwa vier Jahren seit meiner Entscheidung, alles um die Textarbeit zum Mittelpunkt meines Lebens und zu meiner alltäglichen Arbeit zu machen. Wie es das Klischee so will, habe ich einmal Germanistik studiert. Meinen Abschluss erhielt ich mitten in der Pandemie, ein Zeugnis mit Schreibfehler per Post. So viel zu diesem Intermezzo. Denn wenn man mich fragen würde, was ich während meiner Studienzeit gelernt habe, dann eines. Wenn man kreativ tätig sein will, sollte man sich an eines gewöhnen: Das Nebeneinander von Freiberuflerjobs und eigenen kreativen Pilotprojekten, ein Chaos aus Pflichten und Sinn. Womit man aufhören sollte: Erklärungen abgeben an jene, die Kreativberufe a.) nicht verstehen und b.) nicht geringschätzen.

Normalerweise würde ich sagen, dass Kommunikation eine gute Grundlage ist. Doch wenn Gespräche über meinen Beruf auf bestimmte Weise beginnen, verweigere ich die Rolle der Vermittlerin:
  1. „Niemand braucht Künstler, Autoren, etc. Unterhaltung ist Luxus.“
    – „Ok. Wenn du es schaffst, ein Jahr lang auf Netflix, Amazon, Spotify, Bücher, Zeitungen, Online Magazine und Soziale Medien zu verzichten und somit weder Filme, Serien, Podcasts, (Hör)Bücher, Songs, Fotografien, Artikel noch Informationen konsumierst, können wir über das Statement noch mal diskutieren. Wenn du es schaffst – Herzlichen Glückwunsch, du bist ein medialer Asket und musst nicht unterhalten werden. Aber warum redest du dann mit mir?“
  2. „Häh, lohnt sich das finanziell denn?“
    – „Zwar bin ich absolut keine Freundin des ‘Über Geld spricht man nicht’-Credos. Aber da du mich seit fünf Minuten kennst und mich schon zum dritten Mal unterbrochen hast, werde ich dir vermutlich nicht die Übersicht über meine Einkünfte zeigen, mit denen ich Ende des Jahres meine Steuererklärung erstelle. Und wenn du mich etwas besser kanntest, würdest du die Frage sicher anders stellen. Sorry, not sorry.“
  3. „Wahnsinn, dass du deinen Traum lebst. Na, dann unterstützen dich deine Leser*innen ja auch.“
    – „Stimmt – ich tue meine Arbeit gerne. So vielleicht auch deine Steuerberaterin, dein Hausarzt und der Inhaber deines Lieblingsrestaurants. ‘Unterstützt’ du die auch? Oder nimmst du einfach eine Leistung in Anspruch?“
Ein kreativer Job ist am Ende des Tages vor allem ein Job. Schön, anstrengend, fordernd, abwechslungsreich, eintönig und (un)dankbar – alle Facetten.
#gedankenzummitnehmen - Teil 38

Märchenstunde vorbei

Verändern wir uns wirklich so sehr, wenn die Jahre vergehen? Oder nimmt der Druck zu, einem bestimmten Bild zu entsprechen? Denn:
  1. Wir sind alle mal kindisch. Wenn du dich für deine Wut- und Frustanfälle entschuldigst, ist dir meistens niemand böse. Du hast nicht „dein Gesicht verloren“.
  2. Lass dir von niemandem einreden, dass du zu alt bist, um Kuscheltiere zu sammeln, Kinderschokolade zu mögen, Pixar-Filme zu schauen oder in Dobby-Hausschuhen durch die Wohnung zu stiefeln. Über das Innere Kind weiß ich vielleicht nicht viel, aber sicher, dass man aus der Freude an den Dingen nicht herauswachsen muss.
  3. Ja, gesund zu essen und ab und zu mal etwas Bewegung sind gut für dich. Aber tu’s für dich – und nicht fürs schlechte Gewissen. Und warum schwitzt eigentlich niemand in Work-out-Videos? Ja, dein Küchenfußboden ist manchmal klebrig, komm darüber hinweg.
  4. Verdirb dir nicht den Spaß an Dingen, die du magst. Wenn du Love Island schauen, kitschige Fanfiction schreiben oder das neue Album von Taylor Swift feiern willst – mach einfach. Ganz unironisch.
  5. Es ist in Ordnung, nicht zu 100% sicher zu sein, was du willst. Aber probiere dich zumindest aus. Try and Error ist anstrengend, aber Entscheidungen werden nicht leichter, wenn du sie völlig vermeidest. Auch wenn Verpflichtungen manchmal nerven, entgeht dir ganz ohne Commitment auch viel Gutes!
  6. Wenn jemand sich nicht meldet, heißt das nicht automatisch, dass diese Person dich nicht mehr mag. Vielleicht ist ihr auch alles zu viel geworden. Inzwischen kennst du das. Sei nett zu ihr.
  7. Du bist nicht verrückt oder peinlich, wenn du in der Bahn oder im Wartezimmer beim Zahnarzt heulst. Wenn, dann sollten sich die Gaffer schämen.
  8. Nur weil du über 20 bist, musst du niemandem Rechenschaft über dein (nicht)existentes Liebesleben, deine sexuelle Orientierung und deine Verhütung, deine physische und mentale Gesundheit, deine finanzielle Stabilität, deine beruflichen Hochs und Tiefs oder deinen (nicht)vorhandenen Kinderwunsch ablegen. Genau genommen musst du überhaupt keine Rechenschaft ablegen, wenn eine Entscheidung dich allein betrifft. Übrigens auch dann nicht, wenn man dich zum fünften Mal fragt oder versichert, es sei ja nur „nett gemeint“.
  9. Als wir alle noch unsichere Teenager waren und die Hölle durchlebten, die sich Schule nannte, war es vielleicht noch normal, über diejenigen, die wir nicht leiden konnten, zu tuscheln, sie seien „hässlich“, „psycho“ oder eine „Schlampe“. Wenn du aber erwachsen bist und das immer noch machst – hör doch bitte damit auf.
  10. Entschuldige dich, wenn du jemanden verletzt oder ignoriert hast. Aber nicht dafür, wie du aussiehst, wie du dich fühlst oder wer du bist.
#gedankenzummitnehmen - Teil 37

Zoom, du *!

Durchhalten, durchhalten, ein paar Wochen noch? Monate? Nach meinem zweiten Pandemiegeburtstag denke ich nicht mehr daran, was Brecht übers Warten sagte und finde Impfneid nicht sehr konstruktiv. Aber vielleicht kommt ja eines Tages die Gelegenheit, bei der wir uns alle darüber lustig machen, wie wir diese Zeit ausgehalten haben. Also sammeln wir 10 Dinge, die die meisten von uns auf Zoom natürlich nie getan haben:

  1. 1 Minute vor dem Zoommeeting hektisch den Posteingang nach dem passenden Link durchforstet.
  2. Nach dem dritten Mal Abbruch zur Verbindung entrüstet gemurmelt „Nächstes Mal nehmen wir Jitsi“ – niemand nutzt Jitsi.
  3. Auf den Rotwein im Kaffeebecher gepustet, damit es aussieht, als würden wir gerade den abendlichen Grüntee schlürfen. Ich meine, Antioxidantien!
  4. Verbindungsprobleme vorgetäuscht, damit niemandem unsere Social Anxiety auffällt.
  5. Uns darüber geärgert, dass wir gerade was richtig Kluges gesagt haben, aber keine Bestätigung bekommen, weil alle ihre Kamera entweder ausgeschaltet haben oder teilnahmslos in die Webcam starren.
  6. Wer braucht eigentlich Hosen?
  7. Die Kamera ausgemacht, um die stressbedingte Heulattacke zu verbergen.
  8. Gegen Ende mit betont fröhlicher Stimme gesagt: „Ich habe jetzt noch Bock auf ein Home-Workout“. Funktioniert fake-it-until-you-make-it auch beim Runner’s High? Die Endorphine hätten wir nötig.
  9. Behauptet, dass eine Zoom-Party ja „genauso gut“ ist, um den Kontakt zu halten, weil wir unsere Familienmitglieder und Freund*innen nicht kränken wollten.
  10. Uns gefragt, ob wir die einzigen sind, die sich dabei gefangen und einsam fühlten – sind wir nicht!
#gedankenzummitnehmen - Teil 36

Happy Birthday, Einsamkeit

Als Freie Autorin bin ich es ohnehin gewohnt, außerhalb üblicher Zeiten, außerhalb des üblichen Büro-Arbeitsplatz-etc.-Kosmos produktiv zu sein – also warf mich die Aussicht auf Homeoffice vor etwas mehr als einem Jahr nicht wirklich aus der Bahn. Die Selbstisolation und der Verzicht auf soziale Kontakte waren dann eher die unschöne zusätzliche Garnitur. Aber sagen wir es einmal so: Ich kenne mich damit aus, mir beim Arbeiten selbst Grenzen zu setzen, mich ohne Zuspruch oder Druck von außen aufzuraffen. Daher möchte ich gerade jetzt, wo so gut wie niemand mehr Lust auf die Arbeit zuhause hat, ein paar Gedanken teilen.

  1. Die meisten von uns haben zu Beginn der Pandemie eher in improvisiertem Kontext zuhause gearbeitet: Am Küchentisch, auf dem Bett oder auf der Couch. Nicht jeder hat den Luxus, es sich im eigenen Arbeitszimmer ungestört einzurichten. Was man aber immer versuchen kann: Die kleine Ecke in der Wohnung, die fürs Arbeiten bestimmt ist, zumindest ein bisschen weniger improvisiert aussehen zu lassen. Also kein verbleibendes Frühstücksgeschirr auf dem Arbeitsplatz am Esstisch, vielleicht lieber den Terminplaner oder das Arbeitsmaskottchen. Sinnbildlich nicht mehr den Fuß in der Tür halten. Außerdem: Wer dauerhaft auf dem Bett tippt, bekommt viel eher Nackenschmerzen oder einen Schreibkrampf.
  2. Ich weiß, wir alle können sofort Dinge aufzählen, die wir in Homeoffice und Selbstisolation vermissen. Vielleicht den Coworking Space, vielleicht mittags Pizza holen gehen mit den liebsten Kolleg*innen, vielleicht die klare Trennung von Beruf und Privatleben. Aber vielleicht sollten wir uns außerdem fragen: Was hat in der einsamen Zeit denn nicht gefehlt? Welche Arbeitsgewohnheiten möchten wir vielleicht lieber nicht wieder aufnehmen? Mit welchem Kollegen sollten wir uns doch mal analog in Ruhe aussprechen? Vermisse ich wirklich meine Arbeit oder bin ich nur einsam? Wie sehr brauche ich Bestätigung im Berufsalltag und wieso?
  3. Aufs Handy schauen, prokrastinieren und daydrinking sind jetzt ebenso wenig ratsam wie vor einem Jahr. Aber vielleicht sollten wir jetzt etwas gnädiger mit uns sein, wenn es doch eben mal vorkommt. Dauerhafte Einsamkeit stellt komische Sachen mit so gut.
#gedankenzummitnehmen - Teil 35

Entzauberung als Preis

Wann hat es angefangen? Dass Geschichten über Machtmissbrauch nicht mehr schnell vergessen werden, sondern sich in rasender Geschwindigkeit weiterverbreiten? Sicher ist: Es hat sich etwas verändert. Sexismus, Rassismus, Homo- und Transphobie gelten längst nichts mehr als abstrakte Phänomene. Inzwischen können die meisten von uns eine Reihe von Skandalen der letzten Jahre aufzählen. Unternehmen und auch Personen des öffentlichen Lebens müssen sich auf andere Weise rechtfertigen als zuvor – wenn Gleichstellung kein Feature mehr ist, sondern eine Forderung.

Doch auch wir als Individuen stehen vor der Frage: Wie damit umgehen? Können wir uns noch Barilla Spaghetti mit Pesto schmecken lassen, wenn wir die Statements von Guido Barilla kennen? Haben wir uns die letzte Staffel von House of Cards angesehen, wenn wir von den Vorwürfen der Belästigung gegen Kevin Spacey wissen? Gibt uns ein Harry-Potter-Abend wirklich noch das wohlige Nostalgiegefühl, wenn J.K. Rowling „sex is real“ twittert und unter dem Pseudonym Robert Galbraith einen Kriminalroman veröffentlicht, in dem ein Mann in Frauenkleidern Morde begeht? Kaufen wir noch H&M-Shirts, wenn das Unternehmen in Werbung Rassismus reproduziert hat und in der Coronakrise junge Mütter entlassen hat?

Sehr häufig fällt die Frage „Dürfen wir das als Konsumenten noch?“ – fast so, als wäre das alles neu. So, als hätte es früher keine Diskriminierung gegeben. Der Unterschied liegt nicht darin, dass in den vergangenen Jahren Verfehlungen geschahen, die es vorher nicht passiert wären. Der Unterschied liegt darin, dass wir nun teilweise davon wissen.

Aber wer das hier liest, schaue einmal nach rechts, einmal nach links – wir sind umgeben von Produkten. Nahrungsmittel, elektronische Geräte, Unterhaltung, Verbrauchsartikel, Lifestyle. Wer nicht gerade seinen Konsum extrem! unter die Lupe nimmt, wird vermutlich täglich problematische Produkte kaufen. Warum setzt das schlechte Gewissen erst dann ein, wenn wir von den Skandalen wissen? Weil wir es dann nicht mehr ignorieren können, in die Kausalkette verwickelt zu sein? Die Forderung, den eigenen Konsum im Hinblick auf Diskriminierung und Machtverhältnisse zu hinterfragen, ist verständlich. Sie funktioniert aber nur, wenn wir allgemein weniger konsumieren und auf die Herkunft unserer alltäglichen Produkte achten. Und nicht, wenn wir uns nur auf die prominenten Fälle stürzen und performativ unsere Ablehnung zeigen: So wie einige enttäuschte Rowling-Fans, die Exemplare von Bad Blood verbrannten und die Videos davon auf Twitter posteten, was ebenso wenig Sinn ergibt wie „ironisch GNTM schauen“. Sprich: Erst ein Produkt konsumieren, um es dann demonstrativ zu ächten.

You can’t have the cake and eat it. Wenn wir in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens Gleichstellung fordern, müssen wir damit rechnen, dass viele Produkte, die wir mögen, gewissermaßen entzaubert werden und wir um die Skandale wissen, die ebenso wie die hübsche Verpackung mitproduziert wurden. Doch anstatt zu fragen: „Dürfen wir das als Konsumenten noch?“ sollten wir uns vielleicht lieber fragen: „Wollen wir das eigentlich noch?“ Es ist ja nicht so, als wären Barilla Pasta, Harry Potter-Merch, GNTM, House of Cards oder H&M-Shirts verboten. Es bleibt nur eben der bittere Beigeschmack.
#gedankenzummitnehmen - Teil 34

Ableismus, aber in pink

Ungesehen, ungehört. In jeglicher Hinsicht. Es gibt politische Themen, die erreichen mich und meine virtuelle Umgebung dank diversity bubbles und Sozialer Medien in Sekundenschnelle. Pinke Handschuhe als Hygieneprodukt zum Beispiel – wofür auch immer das nötig war. Andere eher nicht so schnell: Wenn Menschen aufgrund von Ableismus sterben. Zum Beispiel. Nur eine kurze Erwähnung im Nachrichtenpodcast, dann Stille. Ich wundere mich nicht darüber.

Es ist mir unmöglich, meinen Ärger zu verbergen, wenn angesichts der alarmierend hohen Zahlen von Gewalt gegen Menschen mit Behinderung nur hilflose Reaktionen folgen, im Sinne von: „Ich bin schockiert, wie kann das passieren?“. Schockierend waren die Gewalttaten in Potsdam, ja. Aber sie passierten nicht in einem soziologischen Vakuum. Egal um welche Formen von Gewalt es geht – Gewalt gegen Frauen, queere Menschen, gegen POC – wo ein Machtgefälle ist, entsteht Machtmissbrauch.

Gewalt gegen Menschen mit Behinderung beginnt nicht erst dann, wenn ein Aggressor die Hand zum Schlag ausholt. Sie hat schon längst eingesetzt, wenn Behinderte und Chronisch Kranke im Alltag auf nichts anderes als ihre körperlichen, bzw. geistigen Fähigkeiten angesprochen werden („Kannst du das denn?“), wenn sie erniedrigende Fragen über ihre Beziehung und ihr Sexualleben ertragen müssen („Wie funktioniert denn das mit euch?“, Zwinker, Zwinker) oder wenn ihr Wunsch nach Selbstbestimmung mit Paternalismus beantwortet wird („Wie soll denn das gehen?!“).

In den letzten zehn Jahren sind – zum Glück – einige soziale Bewegungen stärker geworden, die unser bisheriges Verständnis von Macht und von Normalität aufgerüttelt haben: Da wäre #metoo, 2020 Black lives matter, die queere Bewegung, Debatten um mentale Gesundheit. Aber können wir uns darauf einigen, dass der Wunsch nach Diversität und einer gerechten Gesellschaft ein unvollständiger ist, wenn Inklusion immer wieder übersehen und vergessen wird?
#gedankenzummitnehmen - Teil 33

Achtsam oder zwanghaft?

inspiriert von Berfin Turan
In kaum einem Zeitraum hat sich die Wahrnehmung psychischer Leiden so sehr verändert wie in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren. Bis in die Nullerjahre zerrissen sich Klatschblätter eifrig die Mäuler über Promis mit Depressionen, Bekannte mit Burnout wurden doch eher belächelt, als unterstützt. Auch heute gehören Ressentiments leider nicht der Vergangenheit an, dennoch nimmt die breite Masse inzwischen am Diskurs teil, anstatt ihn zu verdrängen. Das hat verschiedene Motive. Zum einen machen Aktivist*innen, sprich Mental Health Advocats, seit Jahren auf das Thema aufmerksam. Zum anderen stecken wir in einer mentalen Gesundheitskrise.

Mehr Offenheit bedeutet jedoch auch: Therapiemethoden finden ihren Weg in den Mainstream. Auf einmal streamen sich Fitnessblogger beim Achtsamkeitstraining, jeder Zweite aus meinem Bekanntenkreis fordert erstaunlich laut „Probiere mal Journaling aus“. Oder die absurdeste Form des Ganzen: Im kompetitiven Partypingpong aus „Was machst du so?“, werden nun auch Therapiemethoden in den typischen Leistungskatalog aufgenommen. Nicht, dass ein ehrlicher Austausch falsch wäre. Im Gegenteil, er kann durchaus heilend sein. Aber ein ehrlicher Austausch ist unmöglich, wenn psychische Gesundheit zum Wettbewerb gemacht wird.

Was mich daran stört? Zum einen sind Fitnessblogger und der Bekannte von nebenan keine Experten – solange sie nicht heimlich Psychologie studiert und eine therapeutische Ausbildung gemacht haben. Tipps und Tricks von Laien können nicht nur nicht hilfreich, sondern richtig gefährlich werden: Das klassische „Setz doch deine Psychopharmaka ab und versuch’s mit Meditation, hat mir auch geholfen“ ist nur ein Beispiel von vielen. Zum anderen sollte seelische Heilung der absolut letzte Ort sein, an dem der Wettbewerb um den größeren persönlichen Erfolg ausgetragen wird.

Abgesehen davon – und ich glaube es kaum, dass ich explizit darauf hinweisen muss – Menschen sind verschieden, ebenso ihre psychischen Leiden. Einige Konflikte wiegen schwerer als andere, manche Krankheitsbilder sind schwer oder sogar überhaupt nicht zu heilen. Manchmal hilft, was helfen sollte. Dann wieder nicht. Den persönlichen Fortschritt eines Menschen zu bewerten, solange man nicht Therapeut*in oder zumindest eine sehr nahestehende Bezugsperson ist, ist und bleibt übergriffig.

Und nein: Ich schreibe jetzt nicht in mein Dankbarkeitstagebuch. Oder vielleicht doch? Tja, ich behalte mir das Recht vor, es für mich zu behalten.
#gedankenzummitnehmen - Teil 32

Aktivismus und Vergleiche

Wie wird man laut, wenn es um soziale Missstände geht, und trifft dennoch den richtigen Ton? Jeder, der schon einmal ansatzweise eine gesellschaftspolitische Diskussion geführt hat, weiß, wie schnell die Gemüter sich erhitzen oder wahlweise der rhetorische Vorschlaghammer „Das haben wir schon immer so gemacht“ geschwungen wird. Das kann einen durchaus zur Verzweiflung bringen. Oder dasselbe in Grün: Zu Twitter, Instagram oder Tiktok. Problematik on point, am besten maximal 280 Zeichen, digital, viral, in Sekundenschnelle. Oder als Meme, Reel, Minivideo. Sarkasmus als Vehikel. Bildlich gesprochen, viele Vergleiche zu anderen Missständen im Sinne der Aufmerksamkeit. Nun könnte man berechtigterweise fragen: Sollten unter den Nägeln brennende Themen wie Rassismus, Zerstörung der Umwelt, Armut, Gewalt gegen Frauen und queere Menschen nicht immer Aufmerksamkeit bekommen? Und heiligt der Zweck nicht die Mittel?

Nun stehen aber gerade Diskriminierung und Medienkonsum in einem engem Zusammenhang und die Heiligung des Zwecks hört da auf, wo dubiose Berichterstattung, Verzerrung von Informationen durch haarsträubende Vergleiche und die Kränkung anderer Menschen anfangen. Vor ein paar Monaten schrieb eine deutschsprachige feministische Bloggerin im Bezug auf Antifeministen/Sexisten, man habe damals in den 60er Jahren im Rahmen der Bürgerrechtsbewegung Martin Luther King auch nicht aufgefordert ‘doch mal den Ball flach zu halten’ – ähnlich taktvoll wie der in umweltbewussten Kreisen oft gehörte Vergleich von Massentierhaltung mit dem Holocaust. Halten wir einmal fest, dass Geschlechtergerechtigkeit und Veganismus wichtige Themen sind, dennoch sind beide genannten Äußerungen im gleichen Atemzug selbst pietätlos und diskriminierend gegenüber Schwarzen oder jüdischen Menschen.

Als am 16.03.2021 in Deutschland die Ausgabe von AstraZeneca gestoppt wurde, raste quasi in digitaler Lichtgeschwindigkeit ein Meme von quer BR durch meinen instagram-Feed: 0,1% der Frauen bekämen wegen der Antibabypille eine Thrombose, während nur 0,0006% der Menschen in Europa nach der Impfung mit AstraZeneca eine Thrombose bekommen hätten. Warum also den Impfstoff aussetzen? Klingt wie ein faktengestützter Vergleich – eigentlich. Denn was dieser Catchphrase fehlte, war Genauigkeit. Zum einen enthalten nicht alle Verhütungspillen Östrogen, das Hormon, das im Zusammenhang zu Thrombosen steht. Zum anderen ist es etwas schwierig, ein Medikament, das erstmalig in den 60er Jahren erfunden und vielfach weiterentwickelt wurde, mit einem Impfstoff zu vergleichen, der als Notfallmaßnahme gegen eine Pandemie eingesetzt wird. Auch wenn quer BR den Inhalt des Memes mit der Begründung revidierte, der Impfstoff verursache eine seltenere Form der Hirnvenenthrombosen und verdiene deswegen besondere Aufmerksamkeit, blieb der Vergleich erst einmal in der Bubble hängen. Besonders bedauerlich ist an diesem Beispiel, dass zwei medizinische und auch medizinethische Diskurse, nämlich um Covid-Impfstoffverteilung und geschlechtergerechte Verhütung durch den hinkenden Vergleich verwässert und bei genauem Hinsehen ins argumentative Aus katapultiert wurden.

Wer in aktivistischer, bzw. journalistischer Sache – ganz gleich, ob in feministischer, queerer, umweltrechtlicher oder antirassistischer Ausrichtung – sich moralisch flexibler Rhetorik und stark! vereinfachter Zusammenhänge für mehr Klicks bedient, drückt im Grunde den gleichen Knopf bei den Medienkonsumierenden Menschen, wie es Populist*innen seit Jahren tun: Angst, Wut, ein Gefühl der Hilfslosigkeit. Emotionen, die sich schnell verselbstständigen. Bis wir irgendwann erschrocken merken: Oh, das haben wir aber nicht mehr unter Kontrolle.
#gedankenzummitnehmen - Teil 31

Misogynie im Schafspelz

inspiriert von Kathrin Heimler
Feminismus. Als junges Mädchen mit Inselbegabungen, verschrobenen Interessen und einer Abneigung gegen Stereotype mein sicherer Hafen. Enttäuschte mich die Welt, klammerte ich mich gerne an meine feministischen Lieblingsheldinnen. Bis es an der Zeit war, außerhalb des selbst geschaffenen Safe space zu argumentieren und mich Gegenpositionen auszusetzen. Demnächst feiern der Feminismus und ich bald zehnjähriges Jubiläum einer höchst ambivalenten Beziehung – Cheers, was für ein bittersüßer Beigeschmack!

Denn die Last der Stereotypen aufzulösen, ist schwer. Für jede(n) von uns. Es erfordert Kommunikation. Selbstreflexion. Anpassung. Aber auch Enttäuschungen. Alles in allem: Konfrontation. Mit verschiedenen Frauen. Unterschiedlichen Lebenswelten. In unterschiedlichen Formaten: Auf Demonstrationen, Vorträgen, im Online Talk, verheult auf einer Clubtoilette oder eben angetrunken auf dem Küchenfußboden.

Über das, was die Geschlechter aneinander antun können, wurde bereits vieles geschrieben – und ist seltsamerweise für diejenigen, die das Thema verdrängen, immer noch schockierend und mind blowing. Dennoch stelle ich immer wieder Unsicherheit in den Konfrontationen zwischen weiblich gelesenen Personen fest. Unsicherheit des Gegenübers – und meine eigene. Angst davor, dass die andere sich mehr Wissen angelesen hat. Angst davor, nicht „woke“ genug zu sein. Angst davor, kein Vorbild zu sein.

Woher kommt diese Unsicherheit und wohin kann sie führen? Als heranwachsendes Mädchen und junge Frau wird Weiblichkeit in unserer Gesellschaft tendenziell eng mit der Angst verknüpft: „Sei nicht laut, sei lieber perfekt!“, gepaart mit subtilem oder weniger subtilem Gaslightning, wenn es um die Wahrnehmung des Frauseins geht: „Das bildest du dir nur ein. Wart’s ab!“ Im Perfektionsanspruch und dem fehlenden Raum für die individuellen Gedanken wächst aber kein Mut zur Ambivalenz, zur Reflexion, zur Veränderung, stattdessen Soziale Angst, Selbstunsicherheit und Frustration. Also die perfekte Feministin. „Wenn dich das nicht glücklich macht, dein Problem, du erlebst das sicher ganz falsch.“ „Sei ein Vorbild, lebe dein Leben nach fortschrittlichem Plan, sonst ...“ Sonst was?

Unsere Angst vor Bestrafung bei Ambivalenzen, unsere Neigung, einander die erlebte Wahrheit abzusprechen, erschafft ein ungesundes Narrativ. Letztendlich ein sexistisches Narrativ, das fordert, freiheitlich denkende Frauen müssten gleichzeitig in jedem einzelnen Aspekt ihres Lebens ein Vorbild sein – denn erwarten wir von feministischen Männern das Gleiche? Ein Narrativ, das jede private Nische, jedes Erlebnis, jeden Zweifel politisiert. Dieses ungesunde Narrativ ist ein Wolf im Schafspelz: Internalisierte Misogynie mit feministischem Anstrich.

Lasst uns damit aufhören.
#gedankenzummitnehmen - Teil 30

Ist das gesund?

Offen über gesundheitliche Themen und den Körper zu sprechen, ist sicher kein Fehler. Erfahrungsaustausch bricht Tabus. Aber wie schnell sind wir darin, uns als Gesundheitsexperten aufzuspielen und Tipps zu verteilen? Für besseren Schlaf, für Gewichtsabnahme, gesunde Verdauung, weniger Falten, besser Verdauung etc. Das haben wir doch alles gegoogelt. Unserer Bekannten hat das doch auch geholfen. Oder unsere Yogalehrerin hat das mal gesagt. Dann wird das doch wohl stimmen. Oder etwa nicht?

Tatsache ist, dass wir vereinzelte Fakten aufschnappen und unseren Teil zur großen, gesundheitlichen Verwirrung beitragen: Ist Koffein denn schuld an meinen Kopfschmerzen? Darf ich abends Sport machen bei Schlafstörungen? Ist es falsch, dauerhaft Medikamente zu nehmen? Wie gefährlich sind Schmerztabletten? Können Allergien psychosomatisch sein? Wie schütze ich mich vor der Grippe? Was tun gegen Übergewicht, Reizdarm, Hormonstörungen oder Diabetes? Etc, etc. Jeder hat eine Meinung. Und es braucht keine Pandemie, um zu sehen, was passiert, wenn Gerüchte anstatt wissenschaftliche Erkenntnisse zur Informationsquelle werden.

„Hast du schon Kukurma ausprobiert?“ (Das ist nicht wissenschaftlich belegt.) „Meine Tante hat das mit diesem Tee aber weggekriegt!“ (Schön für sie.) „Die Schulmedizin kann dir da nicht helfen!“ (Du aber schon?) „Hilft dir das wirklich?“ (None of your business.) „Setz die Medikamente doch einfach ab!“ (Ohne ärztliche Aufsicht kann das gefährlich sein.)

Warum das problematisch ist? Gesundheitsvorsorge gehört nicht ins Spektrum der Selbstoptimierung und Unsicherheit führt dazu, dass auch gebildete Menschen Rat von Quellen beziehen, die keine sind. Wer dann seine gesundheitlichen Probleme nicht selbst auskuriert, ist von Schuld und Scham geplagt – ziemlich absurd, denn eigentlich haben wir alle einen Anspruch auf medizinische Betreuung.

Ärzt*innen zu finden, denen man vertraut, kann durchaus langwierig und schwer sein. Aber die Abkürzung über den Rat von Laien führt eher nicht in die Selbstheilung, sondern oft zum teuren, hilflosen Tappen im Dunkeln. Unser Gesundheitssystem ist nicht perfekt und dennoch das Beste, das wir haben.
#gedankenzummitnehmen - Teil 29

Kultureller Shutdown

Wenn zwei Fragen mitten im Coronawinter immer wieder neu aufgerollt werden, sind das zum einen die Priorisierung, wie systemrelevant bestimmte Menschen in ihren Aufgaben sind und zum anderen die schmerzhafte Frage nach den Privilegien – denn offensichtlich sitzen nicht alle im selben Boot. Die Entscheidungen der Politik, wer nun am ehesten eine Ausnahme und/oder Unterstützung verdient, sind in vielen Fällen zweifelhaft. Wobei das Zweifeln allein keine ausreichende Maßnahme für gerechtere Regeln wäre. Doch wie wir alle durch diesen Winter kommen, hat nicht nur mit Entscheidungen „von oben“ zu tun. Es hat auch viel damit zu tun, wie wir einander als Gemeinschaft wahrnehmen.

Denn längst hat das Abwägen sich einen festen Platz zwischen uns verschafft: Auf wen müssen wir gerade am meisten achten? Wessen Arbeit ist in einer Pandemie besonders wichtig? Es bereitet mir Unbehagen, Existenzen auf die Waage zu legen – oft fällt das Urteil viel zu schnell, auch über die kreativen Berufe. Zwar droht die Pandemie nicht, mir meine eigene berufliche Existenz wegzunehmen. Doch wenn ich mitbekomme, wie schlecht es vielen meiner Bekannten aus der Unterhaltungsbranche 2020 erging, mache ich mir nicht nur Sorgen um die nächsten Monate, sondern auch um das Danach. Das kollektive Im-Stich-Gelassen-werden durch ein fehlendes kulturelles Leben, das knappe Angebot von Förderungen, die Unzuverlässigkeit von Coronahilfen hat zu einer Vertrauenskrise in der Kunst geführt. Wie soll es danach weitergehen, wenn zuvor nur das Überleben gezählt hat?

Vor allem wird diese Vertrauenskrise eher intern ausgetragen. Denn wer darüber spricht, muss damit rechnen, harsch zurechtgewiesen zu werden: Verleger*innen, Autor*innen, Künstler*innen, Musiker*innen und generell Beschäftigte in der Unterhaltungsindustrie seien ja nicht systemrelevant und ergo nicht wichtig. Die pflegen ja nicht die schweren Covidfälle auf der Intensivstation. Und stimmt – das tun sie nicht. Doch dass Menschen Unterhaltung nicht brauchen, ist gerade jetzt besonders unglaubwürdig. Womit vertreiben wir uns denn die Zeit, halten uns bei Laune, wenn wir unsere Familien, Freunde und Arbeitskollegen nicht sehen können? Um die mentale Gesundheit steht es bei der Mehrheit gerade nicht besonders gut, aber wie viel schlimmer wäre es, wenn man ihr die Livestreamveranstaltungen, die Abendlektüre, den Lieblingspodcast, die Serie aus dem Abendprogramm, Filme, Musikstreamingdienste, das gelieferte Essen vom Lieblingsrestaurant und all das wegnimmt? Und selbst wenn der Lockdown auch ein kultureller Shutdown wäre, wie ginge es danach weiter?

Vielleicht ist es gerade unmöglich, Erwartungen an die perfekte politische Lösung zu stellen. Aber von den Menschen um mich herum erwarte ich, dass sie die Inhalte, mit denen sie abends die Leere füllen, nicht als selbstverständliche Fressalien sehen, die auf Bäumen wachsen und nichts wert sind. Dafür habe ich nur ein klares „Nein.“
#gedankenzummitnehmen - Teil 28

Endloser Lockdown

Jeder hatte in der Pandemie schon diesen einen Moment. Jener Augenblick, in dem die mentale Veränderung, die wir alle durchlaufen, offensichtlich wurde. Man mag noch so eine gefestigte Persönlichkeit sein – doch über einen längeren Zeitraum nicht nur alles, was Spaß macht (Festivals, Kneipe, Sport machen, Freunde treffen), sondern auch alles was Sicherheit gibt (einer geregelten Arbeit mit Kollegen nachgehen, die Familie regelmäßig sehen), verloren zu haben, stellt doch kuriose Dinge mit den grauen Zellen an.

Hier eine kleine Exposition einer vereinsamten Freiberuflerin, kuratiert im Home-Office (wo auch sonst):

  1. Festzustellen, dass der Online-Buchclub das soziale Highlight der Woche war. Unter anderem, weil das Endgerät einmal nicht abgestürzt ist. Gleichzeitig zu müde sein, um die Sprachnachricht der besten Freundin zu beantworten. „Alles ist zu viel.“
  2. Sich verlassen fühlen, wenn der Lieblingspodcast abgesetzt wird. „Was soll das?“
  3. Jeden Tag den Postboten freudestrahlend grüßen – weil sonst niemand mehr „Hallo“ sagt.
  4. Brooklyn Nine-Nine anschauen und dabei eifersüchtig werden. Nicht auf die Darsteller, sondern auf die Rollen. Denn die dürfen zur Arbeit gehen und in einem mittelmäßigen Pub beim Feierabendbier sitzen. „Wissen die eigentlich, was für ein fucking Privileg das ist?!“
  5. In den Supermarkt gehen, um festzustellen, dass die letzte Hafermilch weg ist. Sich selbst mittelmäßig erfolgreich davon abhalten, darüber wie ein Kleinkind zu toben. „Nein, ich habe keine Stimmungsschwankungen. Wie kommst du drauf?“
Just to name a few. Warum ich darüber schreibe, obwohl wir alle genug davon haben? Weil es gegen Ende des Coronawinters nicht Bescheidenheit, sondern Energieverschwendung ist, den Lockdown möglichst tapfer zu performen. Natürlich trifft die Krise uns nicht alle gleich schlimm – aber das heißt nicht, dass wir zu guter Laune verpflichtet sind, nur weil alles noch übler sein könnte. Im Gegenteil: Apathie und Empathie sind keine besten Freunde. Wie sollen wir noch Mitgefühl für die besonders geplagten und einen geschärften Blick für Missstände aufbringen, wenn wir 24/7 damit beschäftigt sind, ja nicht wie Mimosen zu wirken?

Neue Sprache lernen, mit welcher Energie denn? Bananenbrot und Yogaselfies zum Teufel! Vielleicht ist das Letzte, was uns noch auf einem akzeptablen Energielevel halten kann, Ehrlichkeit. Ich brauche dein pflichtbewusstes „Ich will mich ja nicht beklagen, aber ...“ nicht, wenn du mich anrufst oder wir auf Whatsapp um halb eins hin- und herschreiben. Just do it, jammere herum, sei eine unreife Mimose. Tut keinem weh. Dich verstellen aber schon.
#gedankenzummitnehmen - Teil 27

Digitales und Soziales

„Hey. Schaut mal alle zu L. L. ist heute bei einer Podiumsdiskussion aufgetreten, um über strukturelle Diskriminierung zu sprechen. Dabei hat sie ein veraltetes, unpassendes Wording benutzt. Das kann nicht sein! Lasst uns alle zu L. gehen, laut an ihre Tür klopfen und sie dazu bringen, dass sie alles zurücknimmt!“

Würden wir im echten Leben so handeln? Vermutlich nicht – aber auf dem Bildschirm ist es nichts Ungewöhnliches. L. mag fiktiv sein, diese Form der Reaktion jedoch nicht: Call Out Culture. Was wir in der analogen Welt als übergriffig und einschüchternd betrachten würden, ist auf Social Media jedoch nichts Ungewöhnliches. Ich möchte mich nicht gegen Kritik aussprechen, auch nicht gegen öffentliche Kritik. In manchen Fällen ist sie notwendig, um gängige veraltete Narrative durch zeitgemäße zu ersetzen.

Und dennoch möchte ich mir nicht ausmalen, was es mit einem Menschen macht, der von einer Sekunde auf die anderen in fremden, vernichtenden Stories getaggt wird, dessen Aussagen mit hämischen Kommentaren retweetet werden und dessen DMs von Zurechtweisungen überquellen. Ich frage mich, ob wir, um Veränderung zu erreichen, mit Menschen online so harsch umgehen müssen – ganz gleich, ob ihre Worte oder Taten nun problematisch sind. Soziale Angst auszulösen ist keine positive Basis für Veränderung. Wenn wir analog nicht in der Lage wären, diese Form von Hemmungslosigkeit, um nicht zu sagen, Schamlosigkeit an den Tag legen, sehe ich keinen Grund, das online zu tun.

Da ich nicht destruktive Kritik destruktiv kritisieren möchte, möchte ich ein paar Wege vorschlagen, wie man online jemanden auf problematisches Verhalten hinweisen kann:

  1. Jemanden persönlich anzuschreiben, sollte ausnahmslos der erste Schritt sein. Im Idealfall ist die Person offen für Kritik.
  2. Hat das Gegenüber auf die persönliche Kritik jedoch unangemessen und aggressiv reagiert, verhält es sich anders. Bevor du jedoch den Screenshot postest und die betreffende Person darin taggst, denke eine Sekunde darüber nach, ob du findest, dass dieser Mensch es verdient hat, dass unzählige Fremde an seine digitale Tür hämmern. Und selbst wenn du das glaubst – denkst du, dass jemanden an den virtuellen Pranger zu stellen zu einem Umdenken führt?
  3. Alternativvorschlag: Untermauere deine Gegenposition mit Argumenten, ohne sie allein auf dein problematisches Gegenüber zu beziehen und verschaffe dir selbst deine eigene Bühne.
So wie du es auch im analogen Leben tun würdest.
#gedankenzummitnehmen - Teil 26

Dumme Entscheidungen

Was tust du, wenn du nicht weiterweißt? Ruf deinen Therapeuten an. Sprich mit deiner besseren Hälfte. Trink ein halbes Glas Wein mit deiner besten Freundin und heul dich aus. Vielleicht wissen deine Vertrauenspersonen, was richtig für dich ist – oder eben nicht.

Vermutlich laufe ich Gefahr, mich unbeliebt zu machen und wie eine arrogante Zynikerin dazustehen, die sich über allem erhaben fühlt. Teilweise stimmt’s. Ich fühle mich nicht über allem erhaben. Aber arrogant und zynisch bin ich durchaus – manchmal. Warum ich das so schreibe? Weil es wahr ist. Und ich denke, bei sich selbst zu bleiben, ist das größte Geschenk auf der Welt. Ein Geschenk, das man nur sich selbst machen kann.

Wenn ich zurückblicke in meine Vergangenheit und wenn ich durch die Gegenwart schweife, fällt mir eines auf: Meine unvernünftigsten, impulsivsten Entscheidungen waren und sind oft die besten. Zum Beispiel: Das Schreiben. Die Liebe. Mein erstes Studium abzubrechen. Alles Entscheidungen aus einem Moment heraus, für die ich belächelt wurde. Kritisiert. Und ich habe sie nie bereut.

Was ich dagegen oft bereut habe: Die vernünftigen Kompromisse, zu denen mir jeder, wirklich jeder, aus bestem Willen riet. Zum Beispiel: Mein zweites Studium ordnungsgemäß zu beenden. Erneut eine Therapie zu machen. Menschen noch einmal eine Chance zu geben, die mich so sehr verletzt hatten. Und diese Entscheidungen habe ich bereut, weil ich die Verantwortung abgab aus Angst vor meinem eigenen Instinkt.

Nun ein kleines Paradoxon: Diese Folge #gedankenzummitnehmen ist dazu da, dir zu sagen, dass du keinen noch so gut gemeinten Rat anhören, geschweige denn annehmen musst. Und dennoch möchte ich zum Abschluss einen aussprechen – mach damit, was du willst: Deine Entscheidungen kannst du bedauern. Aber die bitterste Form von Reue verspürst du dann, wenn eine Entscheidung nicht deine eigene war, sondern ein demütig geschlossener Kompromiss.
#gedankenzummitnehmen - Teil 25

Ein ungleiches Jahr

Der Jahreswechsel ist letztendlich auch nur ein Abend. Nur wir Menschen haben ihm kulturelle Bedeutung verliehen. Daher lädt das näher kommende 2021 dazu ein, sich mit dem auseinanderzusetzen, was zuvor war. 2020 ist etwas anders: Denn die Schattenseiten sind dieses Jahr weniger individuell. Die Coronakrise hat nicht nur einzelne Menschen, sondern unsere Gesellschaft, letztendlich die ganze Welt befallen. Und dennoch hat die Krise die Menschen nicht im gleichen Ausmaß getroffen. Es fängt schon damit an, dass sich nicht alle im gleichen Maß vor einer Ansteckung schützen konnten und endet damit, dass höheres Einkommen und bessere Gesundheit zumindest korreliert sind.

„Wir bleiben Zuhause“ – aber dafür muss man erst einmal ein sicheres Zuhause und ein stabiles persönliches Umfeld haben. Viele Jobs sind im Home Office nicht möglich und wenn, dann nur mit extremen Einschränkungen. Und last but not least haben manche Branchen die Krise überstanden oder sogar davon profitiert, während andere Verluste gemacht haben – ein Dilemma, für das wirtschaftliche Überleben zu kämpfen und sich gleichzeitig vor einer Ansteckung schützen zu wollen. Abgesehen davon, dass existenziell begründete Nöte und chronischer Stress auch die Anfälligkeit dafür erhöhen.

Wenn ich auf das Jahr zurückschaue, kann ich mich eindeutig in die vor dem Virus privilegierte Gruppe von Menschen einordnen. Manche dieser Umstände entspringen dem Zufall – wie, dass ich meinen Beruf ohne jeglichen analogen menschlichen Kontakt ausüben kann – andere nicht. Was ich im Rückblick auf 2020 bedauere, hat nichts mit den verpassten Lesungen, Buchmessen, Feiern unter Freunden oder gecancelten Reisen zu tun, auch wenn Vermissen ein legitimes Gefühl und nicht automatisch gleich Egoismus ist. Ich bedauere, dass wir als Gesellschaft viel zu wenig auf die Wissenschaft vertrauen – damit meine ich sowohl Virologen als auch Sozialwissenschaftler – und es immer noch als Ausnahmezustand gewertet wird, wenn manche Bevölkerungsgruppen sich zum Wohl anderer einschränken.
#gedankenzummitnehmen - Teil 24

Magische Anziehungskraft

Vielleicht ist es schwer zu glauben: Aber ich bin grundsätzlich ein introvertierter Mensch. Dass mein Beruf es erfordert, präsent zu sein und meine Worte wahlweise zwischen zwei Buchdeckeln, auf einer Bühne, im Livestream oder im Blog auszustellen, ist kein Widerspruch. Im Gegenteil – die überwältigende Mehrheit meiner Zeit verbringe ich damit, zurückgezogen meine Gedanken zu ordnen und an Texten zu feilen. Ich habe keine zehntausend Freunde und Bekannten. Meine Vorstellung von einem guten Samstag ist ein Spaziergang im Wald und danach die Lektüre eines guten Buchs. Was die Außenwelt von mir mitbekommt, sind meine Bühnenmomente – die ich sehr genieße. Aber wäre ich permanent von Menschen umgeben, würde ich auf Dauer wohl nicht mein Glück finden.

Früher habe ich mit dieser Art zu sein gehadert. Bis ich irgendwann verstand, dass sich trotz Widerwillen die Struktur meines Nervensystems nicht ändert. Dann eben Homeoffice statt Coworkingspace. Lieber eine Hand voll gute Freunde anstatt einen gigantischen Bekanntenkreis. In der Kneipe zu zweit etwas trinken gehen und lieber keine riesige Party feiern. Mit manch anderen stillen Zeitgenossen beriet ich mich darüber, wie man die eigene Natur in einer lauten Welt wertschätzen lernt. Ein introvertiertes Leben kann ein sehr friedliches sein – aber eines war mir nicht bewusst: Die Selbstzweifel von Extros.

Bitte, was? Ja, extrovertierte Menschen können auch mit sich hadern. Dass wir in einer selbstdarstellerischen Welt leben, macht es nicht einfacher. Erst als ich Freundschaften zu Extros schloss, begriff ich, dass Reizüberflutung, Konzentrationsschwierigkeiten und zu viel sozialer Ballast durch den Freundeskreis ebenso ernst zu nehmende Konflikte sind wie Social Anxiety und die Sehnsucht nach Ruhe. Denn während Introvertierte oft das Bedürfnis verspüren, die Welt auszuklammern, geben sich Extrovertierte der Welt in all ihren Facetten hin – auf die Gefahr hin, sich darin zu verlieren und das eigene Selbst immer weniger bewusst zu spüren.

Was also hilft? Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass Extros und Intros einander brauchen. Der eigenen Schwächen sind sich laute wie stille Menschen meist bewusst. Im Miteinander erfahren sie ihre eigenen Stärken neu und erwerben Empathie für die gegenteilige Veranlagung. Deswegen – lasst uns die Vorurteile einmal vergessen: Nein, extrovertiert ist nicht gleichbedeutend mit arrogant und nervig. Und Introvertierte müssen nicht „locker werden“. Versuchen wir doch, uns in der Mitte zu treffen und ehrlich zu kommunizieren. Könnte spannend werden.
#gedankenzummitnehmen - Teil 23

Verdient oder nicht?

Können wir wirklich für uns selbst sorgen? Die Leistungsgesellschaft macht es uns manchmal schwer: #nevernotworking, Glänzen vor anderen und vor sich selbst, Dauerpräsenz auf allen Kanälen, analog wie digital. An allen Ecken blinkt es, doch anstatt Erleuchtung findet man nur ablenkendes Flackern. Was sich schon seit Jahren abzeichnete, wird immer deutlicher: Die meisten Industriestaaten stecken in einer mentalen Gesundheitskrise. Die beste Lösung dafür ist Psychotherapie. Das ist zwar unumstritten – in der Praxis jedoch durchaus schwierig. Jeder, der sich schon einmal um seine psychische Gesundheit kümmern wollte, kennt das Hin und Her bei der Therapeutensuche, das Debakel mit Krankenkassen und die Schwierigkeit, bei der Suche nach Hilfe am Ball zu bleiben. Für sich selbst zu sorgen, ist schon einmal ein guter Anfang.

Was mir im Bezug auf das wichtige Thema Selbstfürsorge jedoch Bauchschmerzen macht, ist seine zunehmende Kommerzialisierung. Der Hashtag #selfcare hat sich schon längst unter das Repertoire von Influencermarketing gemogelt. Und von psychischen Problemen Betroffene adaptieren diese Interpretation: „Ja, ich gehe mal online Shoppen, aber ich habe das jetzt verdient.“ „Ja, ich schaue jeden Tag fünf Stunden Netflix, aber ich muss mich entspannen.“ „Ich könnte mir auch mal wieder eine Kosmetikbehandlung gönnen. Oder?“

Nein. Einfach nein. Selbstfürsorge im eigentlichen Sinne ist das Gegenteil von Konsum. Selbstfürsorge ist nicht materiell: Es ist der Spaziergang am frühen Morgen, wenn man zum ersten Mal seit Wochen wieder ein Buch aufschlägt oder abends mit seinen Lieben zusammensitzt und die Arbeit einen Augenblick liegenlässt. Es ist der Moment, in dem man einmal nichts tut, sondern einfach in die Luft starrt – nicht auf einen Bildschirm – und einfach mal existiert. Konsum ist Junk-Food, mit dem man sich mental vollstopft, Selbstfürsorge ist dagegen das liebevoll zubereitete Mahl.

Wer mir jetzt vorwerfen möchte, den moralischen Zeigefinger zu erheben, dem sei eines gesagt: Der Vorwurf ist berechtigt. Und ich stehe dazu. Was mir sonst so missfällt, tue ich jetzt, denn mir ist es Ernst: Psychisch Kranken in einer Konsum- und Leistungsgesellschaft zu noch mehr Konsum zu raten, ist zynisch. Und gefährlich. Es ist wichtig, sich um sich selbst zu kümmern. Aber dafür braucht es keine Rabattcodes, kein Fast Fashion und Bingewatching. Sondern die Bereitschaft, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen und sich einmal nicht abzulenken. Vielleicht wäre das auch ein guter Moment, sich zu fragen, warum dieser Zustand so schwer auszuhalten ist.
#gedankenzummitnehmen - Teil 22

Overload

Ich muss gestehen: Als ich damals den Trailer zu Marie Kondos Netflixformat sah, sträubte sich etwas in mir. Nichts gegen Minimalismus – aber ich verstehe ihn nicht. Ein leerer Raum mit nur drei Möbelstücken und einem Poster an der Wand bringt mich nicht ins Schwärmen. Ich fühle mich nicht befreit, wenn ich aufräume, sondern gestresst. Abgesehen von meiner Neigung, in meinem Schreibzimmer Pflanzen und Literaturklassiker zu horten, fühle ich mich mental nicht bereit dazu, es einfach zu halten. Würde ich das Innere meines Kopfes intuitiv beschreiben, fiele mir nur ein Labyrinth ein, vollgestopft mit Gedanken, Träumen, alten Bildern und wahnwitzigen Ideen.

Und dennoch habe ich vergangene Woche aussortiert. Nicht das Chaos in meinem Schreibzimmer – ich bitte um Verzeihung, wenn ich Illusionen zerstöre, aber anders kann ich nicht arbeiten – sondern das Chaos in meinem digitalen Raum. Tatsächlich habe ich das digitale Aufräumen noch länger vor mir hergeschoben als das analoge, was mir mein zukünftiger Elektroschrott von einem Smartphone auch heimzahlte: Jeden Tag zehn Pushbenachrichtigungen, die ich genervt wegklickte und mindestens einen Aussetzer wegen zu viel verbrauchtem Speicherplatz. Alle paar Wochen ein volles E-Mail-Postfach. Also Ärmel hochkrempeln und los!

Als ich begann, Apps zu löschen, geisterte mir Marie Kondos Ausspruch „This one sparks joy“ durch den Kopf und ich musste lachen. Doch in diesem Fall war es nicht aus der Luft gegriffen – also raus mit Handyspielen, an denen ich seit Jahren keinen Spaß mehr hatte. Zum Teufel mit Pinterest. Zur Hölle mit Pushbenachrichtigungen. Dann ging es weiter mit Facebookkontakten: Warum genau hatte ich noch einmal die Mütter von ehemaligen Schulfreunden abonniert? – Raus damit. Schließlich Whatsapp: Manche Nummern, die ich löschte, konnte ich nicht einmal mehr zuordnen: War das die Erasmusstudentin, der ich vor zwei Jahren den Heidelberger Campus zeigte? Oder die nette Dame von Ebay, der ich eine überflüssige Ikea-Lampe verkauft hatte? Schließlich von Newslettern abmelden – verdammt, waren das viele.

Das digitale Aufräumen war wie eine archäologische Ausgrabung: Manches, das ich wiederentdeckte, amüsierte mich und erinnerte mich an alte Zeiten. Anderes war nichts weiter als virtueller Müll, angehäuft von einer digitalen Chaotin. Ich fragte mich: Wie viel Zeit geht wohl verloren, wenn wir Statusupdates erhalten, die uns nicht interessieren? Wie viele Mails klicken wir am Tag weg? Wie viele Apps fressen Speicherplatz auf unserem Smartphone? Auf wie vielen Netzwerken sind wir noch angemeldet, obwohl wir sie nicht mehr benutzen? Unser Aufenthalt in der digitalen Welt kann durchaus spaßig sein – aber wenn zu viele Tabs offen sind, sinkt die Leistung des Rechensystems. Das ist kein Geheimnis. Vielleicht ist es dann an der Zeit, ein paar Tabs zu schließen.
#gedankenzummitnehmen - Teil 21

Donald Trump und die Hilflosigkeit

Vor etwas mehr als einer Woche erfuhr die Welt, dass Donald Trump sich jetzt mit Corona infiziert habe. Trumps vielgeteilter und vielkritisierter Ausspruch, seine Coviderkrankung sei für ihn äußerst lehrreich, erfuhr große Aufmerksamkeit und noch größeren Spott. Über all diesen Diskussionen – sofern man es so nennen kann – schwebte eine Frage. Das „Was, wenn?“

Was, wenn Trump eine Coronainfektion nicht überlebt hätte? Was, wenn Trumps Erkrankung es unmöglich gemacht hätte, den Wahlkampf fortzuführen? Vielleicht bietet es einen gewissen Reiz, sich solchen Szenarien hinzugeben. Nicht nur, weil in der Popkultur Witze über die Inkompetenz des US-Präsidenten längst Normalität geworden sind: Zum Beispiel behauptete Robin Wright anlässlich der sechsten Staffel House of Cards, dank Trumps politischer Realität seien den Serienmachern die Ideen ausgegangen. Dennoch halte ich nicht viel von Szenarien, welche suggerieren, dass mit dem Verschwinden Trumps sämtliche Probleme mitverschwinden würden.

Die Hilflosigkeit, welche die Menschen Trump als Machtmensch entgegenbringen, spricht aus den Witzen, die viele von uns reißen, und den Schlagzeilen, die wir jeden Tag lesen. Sie spricht aber auch aus dem hitzigen TV-Duell und Joe Biden, der sich auf Trumps aggressiven Diskussionsstil einließ. Genau diese Hilflosigkeit lenkt den Blick von den strukturellen Problemen der USA weg und richtet ihn einer Lupe gleich auf eine Person. Und das kann nicht gesund sein.

Halte ich Donald Trump als Politiker für gefährlich? Ja, sehr. Hoffe ich auf einen Wahlsieg Joe Bidens? Auf jeden Fall. Doch seitdem Donald Trump Präsident ist, macht mir eines viel mehr Sorgen als seine problematischen Aussagen und seine aggressiven Auftritte: Nämlich die Tatsache, dass er nicht nur eine Wahl gewonnen hat, sondern auch eine zweite gewinnen könnte. Was bedeutet: Millionen von Amerikanern haben diese Situation mitgestaltet und Trumps Populismus mindestens in Kauf genommen. Werden sie es wieder tun?

Was würde sich ändern, wenn Trump seine Machtposition verlieren würde? Es ist ungewiss – vielleicht würde die Welt einen Moment der Erleichterung erleben: Keine Skandale mehr in den Schlagzeilen, weniger außenpolitische Desaster. Aber strukturelle Probleme, die seinen Aufstieg möglich gemacht haben, verschwinden nicht über Nacht: Soziale Ungleichheit, Rechtsruck, struktureller Rassismus, Sexismus und Gewalt.
#gedankenzummitnehmen - Teil 20

Das Gute in der Welt

Neulich gestand mir eine Freundin nach ein paar Gläsern Wein, keine Nachrichten mehr zu lesen. „Aber wieso? Willst du nicht wissen, was in der Welt geschieht?“, fragte ich. „Auch ohne die Nachrichten zu lesen oder zu hören, weiß ich, dass sehr viel Schlechtes geschieht. Wenn ich mir das jeden Tag gebe, habe ich ja gar keine Hoffnung mehr“, erwiderte sie. Ich möchte mit diesen Zeilen nicht die Haltung meiner Freundin an den Pranger stellen. Denn sie ist niemand, der keine eigene Meinung hat. Im Gegenteil: Sie versucht, nachhaltiger zu leben, spricht sich aus gegen Sexismus und Rassismus, wenn sie damit konfrontiert wird. Einmal im Monat spendet sie Geld an Unicef. In der Corona-Zeit brachte sie ihren älteren Nachbarn immer mal wieder etwas aus dem Supermarkt mit, stets mit Maske. Doch die täglichen News zu verfolgen – das erschöpft sie.

Ich denke meine nachrichtenmüde, aber nicht unpolitische Freundin wurde Opfer eines Phänomens, das ich immer wieder beobachte: Die persönliche Identifikation mit dem politischen Unheil auf dieser Welt. Selbst wenn es mit der eigenen Biografie nichts zu tun hat – vielleicht sogar gerade dann. Kaum jemand, den ich persönlich kenne, hat Flucht erlebt. Und dennoch sind das die Menschen, die vielleicht Geld zum Zweck von #leavenoonebehind spenden, aber dennoch nicht imstande sind, die kursierenden Bilder aus Moria anzuschauen. „Wie kann man mit der Gewissheit leben, dass so viel Schlimmes passiert?“, fragen manche.

Kennt ihr die Wendung: „Das glaube ich, wenn ich es sehe“? Sich nicht stetig zu informieren, die Bilder des Grauens lieber nicht anzusehen, bekannte Statistik zu Gewalttaten auszublenden, anstatt die Zahlen mit einem Klick zu recherchieren, ist meiner Meinung nach keine Selbstschutzstrategie. Es ist Widerwille. Widerwille, das Schlechte, das Grausame auf der Welt wirklich zu sehen und anzuerkennen. Aber warum beschützt dieser Widerwille nicht? Er mag einen vielleicht vor der emotionalen Erschütterung bewahren und für einen Moment das Gefühl von Sicherheit vermitteln. Doch zumindest unterbewusst bleibt die Gewissheit, dass die Konflikte auch dann noch da sind, wenn niemand hinschaut.

Dabei ist Bewusstheit der Schlüssel, die Welt nicht mehr durch die rein subjektive Brille zu sehen. Es gehört dazu: Sich bewusst zu machen, dass es Menschen gibt, die in diesem Augenblick Hunger leiden. Gewalt ausgesetzt sind. Sterben. Sich bewusst zu machen, dass wir uns das Privileg, in Sicherheit zu leben, nie verdienen mussten. Sich bewusst zu machen, dass dieser Gedanke einen wütend und betroffen macht. Das ist gut! Wut muss weder falsch noch destruktiv sein. Sie motiviert uns dazu, Umstände nicht mehr hinzunehmen, sondern verleiht uns die Energie, etwas ändern zu wollen. Also nutzt die Wut, die ihr empfindet, wenn ihr die Bilder aus Moria anseht, wenn ihr mit Corona-Leugnern konfrontiert werdet und wieder ein Fall von Sexismus am Arbeitsplatz bekannt wird: Unterschreibt Petitionen, geht auf Demos und informiert die Menschen, die euch nahestehen. Tretet einem Verein bei, wenn ihr Zeit dafür habt. Nutzt eure Social-Media-Seiten, um wichtige Beiträge zu teilen und über Probleme aufzuklären.

Das Gute in der Welt ist nichts, was uns in den Schoß fällt. Es muss verteidigt werden, jeden Tag. Bewusst. Mit offenen Augen.
#gedankenzummitnehmen - Teil 19

#endthestigma

Der World Suicide Prevention Day ist am 10. September. In der analogen Welt war das nur ein gewöhnlicher Donnerstag; niemand aus meinem Umfeld sprach über dieses Thema. Online verhält es sich anders: Viele Menschen, deren Weg ich in den Sozialen Medien verfolge, schrieben über Depression, Suizidprävention und erzählten dabei meistens ihre persönliche Geschichte – wovor ich großen Respekt habe. Es reicht nicht, Tabus einmal zu brechen. Stattdessen höhlen ehrliche Worte sie aus, bis kaum noch etwas von ihnen übrig ist. Jeder, der über seine mentale Gesundheit spricht, trägt seinen Teil dazu bei.

Das Stigma um psychische Erkrankungen ist nicht mehr so stark wie vor ein paar Jahren. Und dennoch sorge ich mich um folgenden Aspekt: Im persönlichen Diskurs taucht das Thema mentale Gesundheit oft auf, weniger aber im sozialen oder politischen Kontext. Depressionen treten zwar oft aufgrund der persönlichen Biografie und unabhängig von Privilegien auf. Dennoch sollten soziale Fragen dabei nicht in den Hintergrund gedrängt werden.

Soziale Ungleichheiten in unserer Gesellschaft spiegeln sich auch im psychischen Zustand der Menschen wider. Wer zum Beispiel aufgrund von Homophobie oder Rassismus permanenter Diskriminierung, Unsicherheit und manchmal sogar Gewalt ausgesetzt ist, hat ein höheres Risiko, an Depressionen oder Angststörungen zu erkranken. Wenn eine Person of color oder ein queerer Mensch sich um seine psychische Gesundheit kümmert, ist der Wunsch nach einem Therapeuten oder einer Therapeutin mit ähnlichen Erfahrungen sehr verständlich. Nur sind die meisten Therapeuten und Therapeutinnen eben hetero und weiß – und die psychologische Aufarbeitung von Diskriminierung bleibt auf der Strecke.

Aber auch Sexismus, toxische Maskulinität und patriarchale Geschlechterrollen üben einen Einfluss auf die psychische Gesundheit der Bevölkerung aus: Die Mehrheit der Suizidopfer ist männlich (in Deutschland laut Statistischem Bundesamt 76% im Jahr 2019), auch wenn Krankenkassen mehr Therapien für Frauen bewilligen. Gleichzeitig werden viele psychische Störungen genderkorreliert unterschiedlich häufig diagnostiziert: Frauen schreibt man Depressionen, Angststörungen und Essstörungen zu, während Männer häufiger von Alkoholmissbrauch und Verhaltensstörungen betroffen sind. Für manche dieser Phänomene mag es neurologische Erklärungsansätze geben, wie zum Beispiel den männlichen und weiblichen Hormonhaushalt. Dennoch muss ein Bewusstsein dafür existieren, wie unsere sozialen Geschlechterrollen sich auf das Leben der Menschen und daher auch auf ihre Gesundheit auswirken.

Es gibt noch viel zu tun. Wir sollten über unsere persönlichen Geschichten sprechen, unbedingt. Aber das reicht nicht aus.
#gedankenzummitnehmen - Teil 18

Friendly Reminder

Vor ein paar Tagen verglich Margarete Stokowski in ihrer Spiegel Online-Kolumne den Earth-Overshoot-Day gewissermaßen mit einem Overshoot-Day der Menschen in puncto mentale und körperliche Belastung durch die Coronakrise: „wahrscheinlich hatten viele Menschen ihren Overshoot Day dieses Jahr bereits irgendwann im April oder Mai.“ Und auch wenn ich für gewöhnlich kein Fan davon bin, eine politische Krise mit der anderen zu vergleichen, muss ich gestehen, dass dieser Gedanke bei mir etwas ausgelöst hat. Wir schreiben den 30. August 2020. Wenn ich daran denke, wie die Welt vor einem Jahr aussah und was sich in der Zwischenzeit für die Menschen geändert hat, läuft es mir eiskalt den Rücken herunter. Ich spreche nicht nur vom Virus an sich, von seinen Opfern – was schon schlimm genug ist – sondern auch das, was es ausgelöst hat. Die Coronakrise hat einem Brennglas gleich Konfliktpunkte in Brand gesteckt, die vorher im Dunkeln vor sich hin glimmten.

Nun ist es so, dass ich einer dieser Menschen bin, die durch das Virus nicht wirklich bedroht waren, sind und sein werden. Ich gehöre nicht zur Risikogruppe und wäre durch eine Infektion nicht gefährdet. Und anders als viele habe ich im Alltag keine dramatischen Einbußen hinnehmen müssen. Sicher, meinen Auftritt bei der Leipziger Buchmesse und mehrere Lesungen absagen zu müssen, war nicht gerade erbaulich. Abgesehen davon, dass zwei freiberufliche Aufträge platzten. Aber existenzielle Krisen sehen anders aus – letztendlich sitze ich gemütlich in meinem Schreibzimmer und das ewige Klappern meiner Tastatur trägt mich durch die gleichförmigen Tage.

Doch ich mache mir Sorgen. Nicht um mich, jedenfalls nicht an erster Stelle. Was soll ich zu den Menschen sagen, die zur Risikogruppe gehören und deren Sicherheit auf der Straße jeden Tag gefährdet wird? Was soll ich meinen Freunden sagen, die ihre Jobs verloren haben und mit Mitte zwanzig wieder bei ihren Eltern einziehen mussten? Denen, die am Limit sind, weil sie durch ihre Arbeit die vorhandenen Probleme mitaustragen und das jeden Tag? Und wie soll ich ausblenden, was dieses Wochenende in Berlin passiert ist?

Ich wünsche mir, dass wir genau hinschauen. Nicht alle sind von der Krise existenziell bedroht. Aber manche Menschen unter uns haben keine Kraft mehr. Keine Kraft, sich selbst und ihre Familien durch diese Zeiten zu tragen. Keine Kraft mehr, um auf die sozialen Missstände unserer Gesellschaft aufmerksam zu machen. Keine Kraft mehr, um ihre Angehörigen über Fake News aufzuklären und etwas gegen das allgegenwärtige Misstrauen zu unternehmen. Deswegen müssen wir unsere mentalen Ressourcen teilen, wie es eben möglich ist. Ich wünsche mir, dass wir darauf achten, wie es den Menschen um uns herum geht. Und falls die Krise mehr oder weniger an uns vorbeigeht, sollten wir uns offen und ehrlich fragen: Woran liegt das?
#gedankenzummitnehmen - Teil 17

Schriften der Klassiker

„Die Ehe ist auch für den Mann Unterjochung. In ihr gerät er in die Falle, die die Natur ihm stellt: Weil er ein blühendes junges Mädchen geliebt hat, muß er ein Leben lang eine dicke Matrone, eine vertrocknete Alte ernähren.“

Wäre nicht die leicht veraltete Wortwahl, könnte man hinter diesem Zitat ein weiteres sexistisches Twitterfettnäpfchen, Shitstorm inklusive vermuten. Aber ob das Zitat nun älter ist oder nicht – wer ist dieses Mal der Schuldige? Nein, nicht der. Die. Und nicht nur irgendeine. Das obige Zitat stammt tatsächlich von einer der berühmtesten Feministinnen der Geschichte – und bringt dennoch Sexismus, Fettfeindlichkeit und Altersdiskriminierung in zwei Sätzen unter. Tatsächlich hat ausgerechnet Simone de Beauvoir sich einst diesen zynischen Schnitzer erlaubt.

Wie? Simone de Beauvoir? Die gleiche, deren Werke zu jeglicher feministischer Pflichtlektüre gehören? Wirklich die gleiche Person? Ist es nicht ein Widerspruch? Eigentlich wollte ich nach den Memoiren einer Tochter aus gutem Hause demnächst Das andere Geschlecht lesen. Sollte ich das Buch nun, nachdem ich dieses geschmacklose Zitat in einer fremden Instagramstory gesehen habe, wütend in die Ecke pfeffern und sämtliche Werke Beauvoirs von meiner Leseliste streichen?

Nein – auch wenn es nach einem Dilemma klingt, ist es für mich keines. Der Weg zu mehr Aufklärung führt nicht durch die Zensur. Aus dem Kontext herausgelöste Zitate ersetzen keine Textkenntnis. Ich würde darauf wetten, dass diejenigen, die mit problematischen Zitaten am Sockel einstiger Intellektueller sägen, kaum mehr als ein paar Zeilen aus dem Werk kennen. Die gesamte geistige Arbeit einer Person aufgrund ihrer vermeintlich zur Schau gestellten Ignoranz abzulehnen, ist ein Widerspruch in sich. Ich fordere keinen Verzicht auf Kritik an den Klassikern – Kritik muss sein, sonst gefriert der Zeitgeist zu einem Destillat vergangener Studien. Doch ich wünsche mir, dass wir den Fortschritt nicht in Hashtags und kaum mehr als hundert Zeichen suchen. Es braucht mehr, nämlich eine ernsthafte Auseinandersetzung.

Die Position, über reaktionäre Anwandlungen vergangener Größen zu lachen, ist eine sehr privilegierte. Es ist leicht, aus der Perspektive der heutigen Psychologie die Lehren Sigmund Freuds als rückständig zu betiteln, noch viel leichter, aus der intersektionalen Perspektive die ersten Frauenrechtlerinnen nicht mehr ernst zu nehmen. Ohne die geistige Arbeit der vorigen Generationen hätten wir vielleicht weniger, worüber wir den Kopf schütteln können. Oder aber wir hätten gar nichts – weil es vielleicht keine moderne Psychologie, keine Emanzipationsbewegungen aller Art oder geistigen Fortschritt geben würde.

Während ich das schreibe, fühle ich mich so, als würde mich das Exemplar von Das andere Geschlecht vom Stapel meiner ungelesenen Bücher kritisch anstarren. Werde ich mich an manchen Stellen darüber aufregen? Gut möglich. Fühle ich mich schuldig, es dennoch zu lesen? Nein.
#gedankenzummitnehmen - Teil 16

Unvereinbar

„Mach dein Ding.“ – „Bei dir läuft ja auch nie was nach Plan.“

„Sei offen“ – „So genau wollte ich es jetzt echt nicht wissen.“

„Musst du immer über Sex reden?“ – „Bisschen prüde, hm?“

„Mach dich doch mal unabhängig!“ – „Was sagt denn dein Freund dazu?“

„Könntest ruhig mal was aus dir machen!“ – Willst du echt so vor die Tür gehen?“

„Ich finde dich ja ungeschminkt schöner! – „Warum siehst du so blass aus?“

„Du brauchst keinen Sport machen, bist doch schlank genug!“ – „Hast du abgenommen? Sieht toll aus!“

„Sei nicht immer so laut!“ – „Könntest doch auch mal was dazu sagen.“

Für all das habe ich nur einen Satz übrig: „Wer hat denn bitte dich gefragt?“

#gedankenzummitnehmen - Teil 15

It's a match

Wer bin ich und wenn ja wie viele? Es klingt abgedroschen, ich weiß. Und dennoch hängt es von unserem Gegenüber ab, wer wir in diesem Moment sind. Wie viel Raum wir erhalten. Und welche unserer vielen Facetten wir gerade zeigen. Leben wir unsere stille oder unsere laute Seite? Sind wir in dieser Situation der Zweifler oder der Draufgänger? Der Schwarzmaler oder der Sonnenschein? Es gibt viele literarische Werke, viele Filmklassiker darüber, wie zwei Menschen in ihrem Zusammentreffen den anderen und sich selbst neu entdecken. Nur sind sie fast alle romantischer Natur.

Um nicht missverstanden zu werden – Berufsrisiko – ich liebe die Liebe. Auch die Leidenschaft, die Chemie. Warum auch nicht? Aber es gibt viele Formen von Nähe. Viele Menschen haben mich auf meinem Weg weitergebracht. Nur war in den meisten Fällen keine Verliebtheit oder körperliche Anziehung im Spiel. Was nicht heißt, dass geistige Verbundenheit nicht eine ganz eigene Magie birgt. Ich bin mir sicher, du kennst dieses Gefühl auch aus deinem Leben. Aber kennst du es auch aus den Medien?

Frage dich selbst: Wie viele Romane über die Freundschaft kennst du? Wie viele rührende Filmszenen über platonische Liebe? Beachtet man den Unterschied zwischen den Geschlechtern, wird es noch extremer – Wende die gleichen Frage auf Frauenfreundschaften an oder auf Verbindungen zwischen Männern und Frauen, die keine sexuelle Komponente haben. Oder auf Männerfreundschaften, die nicht sämtliche Stereotype aus dem „Buddymovie“ bedienen.

Das Problem an der Fixierung auf die romantische Liebe als erzählerisches Motiv ist: Die Geschichten müssen nah am Leben sein, nicht umgekehrt. Eine literarische und filmische Welt, die auf die Feinheiten menschlicher Nähe keine Rücksicht mehr nimmt, bleibt hohl und leblos. Und sie suggeriert eine emotionale Verarmung, die nicht der Wirklichkeit entspricht: Manche wundern sich darüber, dass ihre ersten romantischen Beziehungen nicht dem Bild der Medien entsprechen. Erst wenn sie sich von den starren Normen befreit haben, erkennen sie, dass die Schönheit manchmal in Facetten liegt, die auf dem Bildschirm oder zwischen den Zeilen bisher nicht zu sehen waren.

Lasst uns von Freundschaft auf den ersten Blick erzählen. Vom platonischen Liebeskummer. Von Frauen, deren Bindung durch als mehr Glitzer und Mädelsabende zusammengehalten wird. Von Männern, die ein offener, emotionaler Umgang verbindet. Von Manic Pixie Dreamgirls, in die der Protagonist nicht verliebt war. Ich bin ganz Ohr.

#gedankenzummitnehmen - Teil 14

Ist das Toleranz?

Toleranz bedeutet – einfach gesagt – die Fähigkeit, andere Menschen, andere Konzepte auszuhalten. Tatsächlich schwirren aber noch viele weitere Definitionen durch die politische und private Sphäre (Ja, ich würde diese Sphären voneinander trennen). Aber verwenden wir den Begriff so, wie er eigentlich gemeint ist? Bezeichnen wir damit wirklich die Fähigkeit, Dinge auszuhalten, die wir nicht akzeptieren? Oder nutzen wir den Toleranzbegriff als leere Phrase, um Emanzipationsbewegungen aller Art zu verteidigen, quasi als Schutzschild gegen reaktionäre Gegenwehr?

Gleich, ob es nun um Feminismus, queere Bewegungen oder Antirassismus geht – sehr oft werden deren Belange mit einem „Mehr Toleranz“ zu verteidigen versucht. Doch was suggeriert diese Phrase? Im Grunde unterstellt sie, dass man diese Menschen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Hautfarbe „aushalten“, sprich ertragen muss. Nicht, dass sie den Platz in der Gesellschaft einfordern dürfen, der ihnen allein durch ihre bloße Existenz zusteht. Verwenden wir den Begriff auf diese Art, unterstellen wir damit: „Ich bin die Norm, aber du bist in Ordnung“ – eine Annahme, von der sich sämtliche Bemühungen um Diversität distanzieren.

Und damit ist die Toleranz vor allem eines: Ein unfassbar belasteter Begriff, ähnlich wie „Bürgerliche Mitte“ und „freier Diskurs“. Pauschal „mehr Toleranz“ zu fordern, ist vermutlich so ähnlich, wie nach einem Anschlag sich „mehr Liebe auf dieser Welt“ zu wünschen: Eine hohle Phrase, bestenfalls eine gut gemeinte Geste.

Fragen wir uns also: Welche Dinge passen tatsächlich nicht in unser Wertesystem? Und können wir sie wirklich aushalten?

#gedankenzummitnehmen - Teil 13

Bad bad vibes

Ich glaube, mit Selbsthilfebüchern über Positives Denken könnte man mehrere Bibliotheken füllen. #goodvibesonly verzeichnet auf instagram ca. 11,3 Millionen Beiträge. Spotify schlägt mir jeden Tag Podcasts für ein besseres Mindset vor. Was auch immer „besser“ in diesem Fall bedeutet. Manchmal frage ich mich, ob Negativität noch einen Platz hat in unserer Welt. Denn in manchen Momenten sieht es nicht danach aus. Sorgen, Ängste, Zwangsstörungen, Wutprobleme verschwinden in Therapiezimmern und Selbsthilfegruppen. Man könnte meinen, dort gehören diese negativen Gefühle hin, jedenfalls sind sie im Alltag verbannt.

Doch auch wenn ich professionelle Hilfe hoch schätze, frage ich mich manchmal, warum wir negative Gedanken stets pathologisieren müssen. Warum genau muss ein Mensch, der eher zum Grübeln und Zögern neigt, von außen korrigiert werden? Wieso bewerten wir sein Mindset (was habe ich für eine Abneigung gegen dieses Wort) automatisch als „schlechter“? Positive Menschen, die ein Grundvertrauen in sich und die Welt haben, haben oft die stärkere Motivation und leben um einiges leichter. Aber in manchen Momenten braucht es auch die Grübler. Diejenigen, die nicht überzeugt von einer Idee sind. Diejenigen, die bereit sind, mit sich und den Umständen zu hadern.

Aus Wut, Angst, Sorgen, Frustration können höchst produktive Dinge entstehen. Es ist nicht falsch, als Paar den Abend lieber streitend zuhause zu verbringen, anstatt sich um ein lockeres Dinnerdate zu bemühen. Vielleicht werden endlich Dinge aufgearbeitet, die zuvor nicht zur Sprache kamen. Ein Projekt noch einmal zu verwerfen, kann ein Anfang von etwas Großem anstatt ein Ende sein – Wer weiß? Letztendlich gilt das auch für politische Dinge: #goodvibesonly und ein schönes Lächeln bringt die Menschen nicht heraus auf die Straße, um für eine gerechtere Welt zu demonstrieren.

Deswegen frage ich inzwischen immer, wenn jemand mich auffordert, etwas nicht zu zerdenken: „Warum eigentlich nicht?“

#gedankenzummitnehmen - Teil 12

Es reicht nicht

Sich virtuell zu bekennen, ist einfach. Es braucht zehn Minuten, einen Strauß Blumen am 8. März hochzuladen und darunter wahlweise ein Zitat von Frida Kahlo oder Virginia Wolf einzufügen, zwei weitere, um am 2. Juni ein schwarzes Quadrat im wohlkuratierten Instagramfeed aufzunehmen. Vielleicht eine, um einen Tweet von Freunde fürs Leben zu teilen. Unter dem Post einer Inklusionsaktivistin ein paar Ausrufezeichen zu positionieren, ist vielleicht sogar nur eine Frage von Sekunden. Auf die Gefahr hin, dass ich zynisch klinge: ich bin’s nicht.

Doch ich bin’s. Aber nicht, weil ich die Macht virtueller Wirksamkeit unterschätze. Es gibt Aktivisten und Aktivistinnen, die es sich zum Beruf gemacht haben, über Missstände aufzuklären – in vielen Fällen sehr schlecht oder überhaupt nicht bezahlt – sogar auf die Gefahr hin, nicht gehört zu werden. Der eine oder andere Hashtag, wie zum Beispiel „metoo“ hat eine globale Bewegung ins Rollen gebracht. Aber hohl politische Zugehörigkeit zu demonstrieren, ohne je unaufgefordert über die Problematik reflektiert zu haben, reicht nicht aus.

Warum fällt es vielen so leicht, unkommentiert und ohne Vorwarnung Bilder der Gewalt auf Sozialen Netzwerken zu teilen, gleichzeitig aber so schwer, mit ihren Freunden und Bekannten über Diskriminierung zu sprechen? Warum nutzen so viele von uns die Bildungsangebote, die wir haben, nicht und schreiben lieber „100%“ unter einen Text, den sie nicht einmal zu 50% verstanden haben? Und warum ist man so schnell dabei, Content von Aktivist*innen zu teilen, aber gleichzeitig so zögerlich winzige Kleckerbeträge spenden, damit diese ihre Bildungsarbeit finanzieren können? Wieso heißt es online überall: „Wir müssen über Rassismus reden“, „Der Sexismus muss aufhören“, „Inklusion muss vorangehen“, aber in der analogen Welt geht das stille Schweigen weiter?

Mit welcher Emanzipationsbewegung wir uns auch solidarisieren wollen, sollten wir uns eines bewusst machen: Es gibt Unterschiede zwischen den Menschen. Der größte Unterschied liegt darin, ob man nach einem Solidaritätspost den Bildschirm ausmachen, nach einer Demo das Schild wegpacken oder das Spruchshirt ausziehen kann und ein Thema damit aus den Augen, aus dem Sinn ist oder eben nicht. Niemand muss sich schuldig fühlen, zu den Menschen zu gehören, die politische Realitäten ins Private willkürlich ein- oder ausladen können. Aber es reicht nicht, eine Minute Zeit zu investieren, nur um zu demonstrieren, dass man „auf der richtigen Seite“ steht. Es reicht nicht.

#gedankenzummitnehmen - Teil 11

Was machst Du so?

Wir alle kennen diese Frage. Wenn nicht gerade Corona unser Sozialleben lahmlegt, stellen wir sie vielleicht sogar mehrmals am Tag. Wir fragen unseren Kommilitonen, den wir im Coffeeshop treffen, was er so macht. Aha, er sitzt an einer Seminararbeit und geht heute noch zum Prüfungsamt. Dann schreibt uns eine Bekannte aus der Schulzeit an. Gleiche Frage, eine ähnlich triviale Antwort: Sie gewöhnt sich an den neuen Job und hat in ihrem Garten ein Planschbecken aufgestellt. Faszinierend. Nichts gegen Seminararbeiten oder Plantschbecken. Manchmal freut man sich auch über die trivialen Dinge und sie haben einen Platz in unserem Leben verdient. Aber wenn diese Frage zu einem Muss geworden ist, etwas, dass sowohl Fragesteller als auch Gegenüber mit Lustlosigkeit und Pflichtgefühl behandeln, wirkt Smalltalk im Grunde antisozial. Wir erfahren Dinge, die wir vom anderen nicht wissen wollen und müssen gleichzeitig überflüssigerweise unser Alltagsleben erörtern.

Sollten wir stattdessen einfach ehrlich antworten? „Eigentlich nichts. Ich habe gerade meinen Master fertig, aber meine sozialen Phobien halten mich davon ab, zu Bewerbungsgesprächen zu gehen.“ „Ich trauere einem Typen hinterher, der mich nach drei Dates geghostet hat.“ „Vor drei Wochen habe ich versucht, mit dem Rauchen aufzuhören. Was soll ich sagen? Ist heute meine dritte.“ Ehrliche Antworten zu geben, ist ein Anfang. Vielleicht ernten wir in der einen oder anderen Situation einen irritierten Gesichtsausdruck. Oder aber wir führen ein Gespräch, das uns eventuell nicht langweilt. Betrachten wir das einmal von einer anderen Seite: Wollen wir überhaupt Freunde und Bekannte um uns haben, die darauf nur eine oberflächliche Antwort hören wollen? Im Grunde sind ehrliche Antworten fast wie ein Rohrschachtest. Wir erkennen, wer ein Auge für die gesamte Palette unserer Gedankenwelt hat und wer nicht.

Oder wir könnten anfangen, andere Fragen zu stellen. „Was denkst du?“ „Was beschäftigt dich?“ „Was ist in der Zwischenzeit in deinem Leben passiert?“ „Wofür interessierst du dich gerade?“

Mal schauen, was passiert.

#gedankenzummitnehmen - Teil 10

Was hilft und was nicht

Längst haben wir den Punkt überschritten, an dem Verschwörungstheorien über Corona die Runde machen. Immer wieder bleibe ich an den Worten von Sophie Passman hängen, die in ihrem vielfach beachteten Video konsterniert feststellt: „Irgendwie habe ich langsam das Gefühl, alle drehen durch.“ Tja. Da hat die gute Frau Passman wohl leider recht. Was aber leider auch zu unserer Realität gehört: Die Menschen, die aktuell Videos von Xavier Naidoo, Ken Jebsen und Attila Hildmann teilen, sind nicht einfach nur anonyme Hater, die seriösen Journalisten und Autoren das Leben schwer machen. In manchen Fällen sind es alte Klassenkameraden, Freunde oder Verwandte. Und auf einmal stecken manche von uns, die sich sicher in ihrer Blase glaubten, in Whatsapp-Chats fest, in denen Verschwörungstheorien die Runde machen. Und obwohl diejenigen, die Corona als die neue Weltverschwörung sehen, erwachsene Menschen sind, bleibt die Frage: Was tun? Bin ich verantwortlich dafür, wenn mein Onkel Xavier Naidoo als Ikone feiert und mich vor einer Impfpflicht warnt? Liegt es in meiner Verantwortung, dass meine Bekannten sich nicht an die Sicherheitsregeln halten und meinen, jeder müsse „das selbst entscheiden“? Oder geht mich das alles im Grunde nichts an?

Ich würde sagen, die Antwort ist ein eindeutiges Weder-noch. Nein, es ist nicht unsere Schuld. Aber dennoch geht es uns etwas an. Wenn wir uns eine Welt wünschen, in der die Fake News nicht gewinnen, sollten wir Menschen aus unserem privaten Umfeld zumindest die Chance auf eine gerechte Diskussion bieten und unsere eigene Position klarstellen. Allerdings sollte eines gewiss sein: Die Menschen, die wir da konfrontieren, sind mündige Wesen und treffen ihre eigenen Entscheidungen. Das ist an sich zwar etwas Gutes, jedoch kann das Ganze für uns schlecht enden: Womöglich wird man uns Dummheit oder Naivität unterstellen. Vielleicht wird man uns sagen: „Du bist ja gehirngewaschen.“

Und auch wenn weder ich noch sonst jemand eine narrensichere Methode dafür verraten kann, möchte ich dazu auffordern, uns streng an ein paar Grundregeln zu halten, die im extremistischen Lager gerne mit Füßen getreten werden. Also: Wir sollten nicht in reißerische Behauptungen verfallen, auch nicht, wenn wir aufgebracht sind. Halten wir uns an die öffentlich-rechtlichen Medien und das Robert-Koch-Institut und nicht an die Aussagen von Personen ohne fachlichen Hintergrund, auch nicht, wenn wir deren Ansichten gut finden. Lasst uns unsere Quellen nennen und uns nicht vage ausdrücken: Der Satz „Studien beweisen“ ist zum Beispiel problematisch, weil Studien erstens empirisch arbeiten und daher keiner logischen Schlussfolgerung nahekommen und zweitens, weil man vermeintliche Fakten immer in einen Kontext setzen muss. Außerdem sollten wir uns nicht über die Menschen, die an Verschwörungstheorien glauben, lustig machen. Nicht erst genommen zu werden ist so etwas wie kalorienreiches Futter für Verfolgungswahn. Und ansonsten nur noch ein letzter Rat: Sich verantwortlich zu verhalten, kann auch bedeuten, die Diskussion im richtigen Moment zu verlassen, bevor es nur noch persönlich wird.

#gedankenzummitnehmen - Teil 9

Blubberblasen

Ich muss gestehen: Weder habe ich den Mut noch das Wissen manch feministischer Aktivistinnen, die sich irgendwo zwischen Demos, Blogs, Twitterfehden und Podiumsdiskussionen bewegen. Ich kann vermutlich nicht jedes einzelne Werk von Virginia Wolf herunterbeten und auch manch feministischer Kampfslogan geht an mir vorbei. Geht man jedoch von der klassischen Definition aus, sprich gleiche Rechte für alle Geschlechter. Ja, dann dürfte ich als Feministin durchgehen.

Manche Sinnfluencerinnen – richtig gegendert, bisher habe ich kein männliches Beispiel gesehen – haben davon anscheinend jedoch eine andere Definition: Feminismus = der Glaube, dass nur die richtigen Produkte einer Frau dazu verhelfen, den Platz einzunehmen, der ihr zusteht. Ein Frauenideal, dem ich mich online aktuell nicht entziehen kann. Bevor ich mir eine Y-Kollektiv Doku über Sexismus ansehen kann, ploppt eine Werbung auf, die ebenso gut aus den Fünfzigern hätte stammen können. Scrolle ich mich durch meinen instagramfeed, sehe ich mindestens einmal am Tag eine Frau, die sich in fair produzierter Unterwäsche räkelt und erklärt, sie fühle sich endlich wie eine starke, unabhängige Frau. Dass es sich bei diesem Beitrag um bezahlte Werbung handelt, wird nur sporadisch erwähnt.

Wer mir jetzt vorhalten möchte, ich spräche Frauen mit virtueller Reichweite das Recht ab, Werbung machen zu wollen und damit Geld zu verdienen – das tue ich überhaupt nicht. Ich persönlich habe nichts dagegen, wenn eine Sinnfluencerin Sextoys, Damenrasierer, fair produzierter Unterwäsche oder veganen Badzusatz bewerben möchte. Nur zu! Aber ich kann nicht nachvollziehen, warum man zwanghaft nach einem gemeinsamen Nenner mit dem Kampf um Menschenrechte sucht.

Denn ja – Frauenrechte sind Menschenrechte. Und hat schon einmal jemand versucht, das Patriarchat in rosa Blubberbläschen zu ersticken? Nein? Was tun wir ab jetzt gegen strukturelle Ungleichheiten und gegen diejenigen, die sie aufrecht erhalten? Schwenken wir delfinförmige Dildos wie ein Zepter? Oder fokussieren wir uns lieber auf das Wesentliche? Ich habe keine Ahnung, wie du persönlich versuchst, als Frau in unserer Gesellschaft deinen Weg zu gehen. Aber ich bin mir sicher, du schaffst das – und dafür brauchst du einfach nur dich selbst. Und keinen Damenrasierer.

#gedankenzummitnehmen - Teil 8

Shitstorms und Hybris

Ich habe „Alte weiße Männer“ von Sophie Passmann nicht gelesen, trotz der Diskussionen, die es ausgelöst hat. Ja, ich weiß. Aber einen Satz dieser Autorin werde ich erst einmal nicht vergessen. Es ist kein Zitat aus ihrem Buch, sondern ein Ausschnitt aus einem Interview, das sie während der letzten Frankfurter Buchmesse gab: „Wir haben gerade eine große Faszination für alles, was rechts und menschenfeindlich ist.“ Ironischerweise ist ausgerechnet der Kiwiverlag, bei dem ihre Bücher erschienen sind, auf Grund dieser Faszination in den Schlagzeilen. Für Empörung gesorgt haben einige Gedichte von Till Lindemann, sonst eher bekannt für opulente Bühnenshows und grollenden Gesang.

Ich für meinen Teil möchte keine einzige Zeile daraus in diesem Text zitieren und bin mir sicher, dass ich dazu nichts mehr sagen muss. Ja, ich finde das Gedicht taktlos. Gewaltverherrlichend. Aber anlässlich dieser Diskussion möchte ich jedem, der aktuell unter dem Hashtag „Lindemann“ seine Empörung kundtut, an einen Ratschlag von Sophie Passmann erinnern. Der richtige Umgang mit menschenfeindlichem Gedankengut bestehe darin, dem Urheber nicht ein Mikro vor die Nase zu halten und zu sagen: „Was, du hast etwas Menschenfeindliches gesagt? Sag es noch mal und wir drucken’s!“

Zwar bezog sich ihre Kritik in diesem Interview wohl eher auf die Strategie der Massenmedien, in Zeiten des Rechtsrucks Radikalen mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Aber Soziale Medien sind auch ein Teil der Medienlandschaft und zwar ein sehr mächtiger Teil. Wenn wir in den virtuellen Aufschrei miteinstimmen, ist das einfach gesagt nur eine andere Variante, Till Lindemann eine Bühne zu zimmern, auf der er seine menschenfeindlichen Überzeugungen noch lauter verkünden kann.

Denn in einem Punkt bin ich mir sicher: Till Lindemann mag geschmacklos sein, aber unbedarft ist er sicher nicht. Der Shitstorm, die Kritik ist vermutlich Teil eines Plans, der Provokation und Grenzüberschreitung als Marketing beinhaltet. Tun wir alle laut unsere Empörung kund, bekommt er höchstwahrscheinlich genau das, was er will. Und ich weiß nicht, wie ihr darüber denkt, aber: Ich möchte das nicht erreichen. Geben wir dieser Strategie nach, werden immer mehr menschenfeindliche Inhalte unsere Medienlandschaft prägen, ein Aufschrei wird den nächsten jagen. Und während wir damit beschäftigt sind, darauf zu reagieren, planen deren Urheber nur ihren nächsten Schritt.

Stellen wir uns eine Frage: Wie viel Energie verwenden wir darauf, Künstler, deren Werte wir nicht nur nicht teilen, sondern unzumutbar finden, zu kritisieren? Und wie viel Energie, wie viel Aufmerksamkeit, wie viele respektvolle Worte bleiben übrig für die Künstler, die aus unserer Sicht alles richtig machen? Wie viel menschenfreundliche kreative Arbeit entgeht uns, weil wir vollkommen reizüberflutet sind und auf defensive Kritik eingestimmt?

Ich wünsche mir, dass wir, sobald sexistische und rassistische Künstler wieder eine Bühne haben, das Scheinwerferlicht neu ausrichten. Lasst es uns auf Kreative richten, die für eine offenere Gesellschaft eintreten, und diese Aufmerksamkeit ehrlich verdienen. Also mache ich den Anfang: Habt ihr mitbekommen, dass Saša Stanišić während der Coronakrise jede Woche online Benefizlesungen veranstaltet, um #leavenoonebehind zu unterstützen? Dass die Bestsellerautorin Kathrin Weßling zusammen mit einer Psychologin Livestreams über psychische Gesundheit sendete, um psychisch Kranken durch die Quarantänezeit zu helfen? Kennt ihr Katja Lewinas neuste Erscheinung „Sie hat Bock“, das mit Mythen über weibliche Sexualität bricht? Habt ihr euch schon die Podcastserie „Unangepasst“ auf Spotify angehört, in welcher unter anderem Sophie Passmann und Laura Gelhaar zu Wort kommen? Nein?

Dann fragt euch bitte ehrlich, woran das liegt.

#gedankenzummitnehmen - Teil 7

Empathie schützt

Covid-19 ist keine vorrübergehende lästige Grippe, stattdessen nimmt die Krise ihren Lauf. Wir können es nicht mehr leugnen. Stattdessen wurde die Außenwelt aus unserem Leben ausgeklammert, im Mittelpunkt steht nun das Innenleben. Wie das aussieht, ist ungewiss: Manche von uns entwickeln eine paranoide Abhängigkeit von Pushbenachrichtigungen, Sportmuffel schwören plötzlich auf Homeworkouts, die einen nehmen sich vor, jetzt endlich mehr zu lesen, die anderen wiederum streamen einfach nur besoffen Lieblingsfilme aus der Kindheit auf Disneyplus. Im besten Fall alles zusammen. Oder gar im schlimmsten Fall? Denn egal, wie man der Krise begegnet – die Verurteilung ist gewiss. #staythefuckathome darf man nur unter die Bilder seiner Altbauwohnung setzen, wenn man sich zuvor ausführlich für seine Privilegien entschuldigt hat. Wer weiterhin arbeiten geht, weil er oder sie „systemrelevant“ ist oder der Arbeitgeber es nicht zulässt, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, zuerst an sich selbst zu denken. Möchte man das Beste aus der Krise machen und die Zwangspause nutzen, um an sich zu arbeiten, ist man taktlos. Wer dagegen ehrlich zugibt, die Krise nicht gut wegzustecken, wird mit Nachdruck daran erinnern, dass es anderen noch schlechter geht.

Die Wut, die wir offensichtlich alle aufeinander verspüren, ist an sich nichts kein neues Phänomen. Vielleicht ist es ein Ergebnis des Individualismus, dass wir uns alle immer sofort angesprochen fühlen und nur ein einziges Widerwort einem Angriff auf unsere Person gleichkommt. Doch eine Krise, die keine Gesellschaftsschicht, kein Individuum wirklich verschont, liefert Zündstoff für den Tanz auf dem Pulverfass. Und ich weiß nicht, wie es euch geht – aber ich habe diesen Tanz wirklich satt. Und damit niemand mich missversteht: Ich halte keine der allgemeinen Sicherheitsregeln für übertrieben. Es gibt einen Grund, warum Virologen uns anraten, menschlichen Kontakt und das öffentliche Leben zu meiden und den möchte ich nicht anzweifeln. Was ich aber nicht hinnehme, ist, dass wir uns in schweren Zeiten, in denen wir alle verzichten, auch noch die Frustrations- und Glücksgefühle verbieten wollen. Ich würde mir wünschen, dass Empathie der Leim wäre, der unsere Gesellschaft noch zusammenhält. Stattdessen regieren Schuld und Scham.

In vielerlei Hinsicht bin ich selbst in dieser Krise privilegiert, in anderer nicht. Ich bin nicht in der Risikogruppe, aber manche meiner Angehörigen. Meine berufliche Existenz wird durch die Krise nicht infrage gestellt, doch ich verzichte trotz chronischer Krankheit auf Arzt- und Therapeutenbesuche. Und ja – auch einem introvertierten Menschen fehlen ab einem gewissen Zeitpunkt die sozialen Kontakte. An manchen Tagen der Krise geht es mir gut. Dann genieße ich die Ruhe, lasse meiner Gedankenwelt freien Lauf und schreibe. An anderen Tagen ist das nicht der Fall und ich muss darum kämpfen, dass sich noch alles zum Guten wendet. Doch all das spielt sich im Innenleben ab. Wie andere Menschen diesen Tag erleben, beeinflusst meine persönliche Wahrnehmung nicht. Ob sie nun um ihre Gegenwart und Zukunft bangen müssen oder die Quarantäne als neue Form der Selbsterfahrung praktizieren – es geht mich im Grunde nichts an. Doch eines kann ich sicher sagen: Ich wünsche jedem Menschen da draußen, dass Letzteres zutrifft. Umgekehrt bezweifle ich auch, dass jemand, der von der Krise härter getroffen wird, etwas davon hat, wenn ich mich für meine Situation rechtfertige oder meine positiven wie negativen Gefühle zu entschuldigen versuche.

Empathie mit sich selbst ist nicht gleichbedeutend mit Egoismus. Sich zu pflichtbewusster Dankbarkeit zu zwingen, ändert nichts daran, dass wohnungslose Menschen, Menschen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, Menschen in Flüchtlingslagern, nicht sicher sind. Und auf die Gefahr hin, missverstanden zu werden – aber das ist mein Berufsrisiko: Ich finde es gut und richtig, sich seiner Privilegien bewusst zu sein. Doch sich dafür zu entschuldigen, ist nichts weiter als die Erleichterung des eigenen Gewissens. Die eigenen Empfindungen im Keim zu ersticken, ist nicht solidarisch, sondern destruktiv. Letztendlich ist das Schuldbewusstsein der Verschonten auch nur eine andere Form, um sich selbst zu kreisen.

Aber wie können wir solidarisch sein? Es offenbaren sich unzählige Möglichkeiten: Von der Scham der Gesunden können Menschen in der Risikogruppe nicht profitieren, von Unterstützung im Alltag jedoch schon. Sich für unser kuscheliges Zuhause zu entschuldigen hat keinen Nutzen, karitative Organisationen zu unterstützen, jedoch schon. Und ja – auch die kleinen Gesten sind etwas wert. Denn ob wir nun unseren Nachbarn bei den Einkäufen helfen, unsere Großmutter täglich anrufen oder uns einfach nur rigoros an Sicherheitsregeln halten: In diesen Zeiten entscheidet unsere Empathie und nicht unser schlechtes Gewissen darüber, wie wir als Gemeinschaft zueinander stehen.

#gedankenzummitnehmen - Teil 6

Was euch gefällt

„Hast du auch Guilty Pleasures?“, fragte ich neulich einen Kommilitonen. Es war während der Mittagspause. In Grüppchen liefen wir über den Karlsplatz zurück zum Germanistischen Seminar, während jeder im Laufen wahlweise in die Brötchentüte vom Café Gundel griff oder einen Schluck Kaffee aus dem Pappbecher trank. Ich hatte ein Geständnis aus den Untiefen des deutschen Fernsehens erwartet, vielleicht auch B-Movies in Form von schlecht animierten Zombiedesastern. Stattdessen erntete ich ein Stirnrunzeln. „Ist das so ein Sexding?“ „Was, nein. Also so war es jedenfalls nicht gemeint.“ Als ich es ihm erklärte, wirkte er immer noch nicht besonders angetan. „Für mich ergibt das keinen Sinn“, meinte er schließlich, „Wieso sollte man sich denn dafür rechtfertigen, etwas zu mögen?“

Im Nachhinein dachte ich über diesen Kommentar nach. Zwar hatte ich mit Guilty Pleasures tatsächlich nichts Sexuelles gemeint. Aber wenn ich ganz ehrlich zu mir bin: Wenn wir nicht mutig genug sind, frech damit zu kokettieren, erzählen wir von unseren Guilty Pleasures hinter vorgehaltener Hand oder entschuldigen uns sogar. Tatsächlich kenne ich Menschen, die eher zu ihren schrägen sexuellen Vorlieben stehen würden als zu ihrem Musikgeschmack. Heißes Wachs und morbide Fantasien sind wohl konformer, als das neue Album von Taylor Swift zu feiern.

„Weißt du, ich schaue ab und zu doch Germany’s Topmodel“, gesteht mir meine feministische Freundin und kichert ganz unfeministisch. #notheidisgirl? Auf Spotify gibt es sogar ganze Playlists, die mit „Guilty Pleasure“ betitelt werden. Und ich muss gestehen: Auch ich habe mich schon gerechtfertigt, nach wie vor eine Schwäche für billige Fantasygeschichten zu haben, obwohl ich Germanistik studiert habe und meine ganze Arbeit sich um Bücher dreht.

Guilty pleasure bedeutet übersetzt „schuldiges Vergnügen“. Aber schuldig wofür? Man könnte argumentieren, dass Germany’s Topmodel ein ungesundes Körperbild vermittelt und somit antifeministisch ist. Dennoch macht sich die feministische Konsumentin meiner Ansicht nach nicht schuldig, wenn sie die Show weiterhin konsumiert. Anstatt sie dafür zu verurteilen, könnte man sie fragen: „Warum schaust du es noch? Du bezeichnest dich als feministisch und beschäftigst dich mit realistischen Schönheitsidealen. Worin liegt die Faszination?“ Die Antwort könnte interessant werden oder vielleicht sogar zum Diskurs beitragen. Aber wenn wir eine Umgebung schaffen, in der man sich nicht erklären kann, werden wir die Motive auch nie erfahren. Schade eigentlich.

Ich habe eine Vorliebe für billige Fantasy, weil für mich damit Erinnerungen verbunden sind: Als ich vierzehn war, versuchte ich, einen Fantasyroman zu schreiben. Weil ich aber keine Erfahrungen mit dem Schreiben hatte, bediente ich mich dem klassischen Repertoire aus dem fantastischen Werkzeugkasten: Werwölfe, verlassenes Schloss, im Finale sogar ein paar Zombies. Jammerschade, dass das damalige Manuskript mit der Festplatte meines alten Computers verschollen ging. Heute würde es mich wohl ziemlich amüsieren, das alles noch einmal zu lesen. Angefangen bei der Tatsache, dass trotz meines Vornamens die zweifelhaften Werke von Stephanie Meyer an mir vorbeigingen. So dachte ich, die Geschichte eines Mädchens, das in eine fremde Stadt zieht und sich mit einem einsamen Wolf anfreundet, könnte noch interessant sein. Aber ich wäre in der Lage, meinem jüngeren Ich seinen unperfekten Geschmack zu verzeihen. Warum sollte ich mich gegenüber meinem gegenwärtigen Ich anders verhalten?

Schuldig zu sein impliziert, gegen eine Wertvorstellung zu verstoßen. Aber welcher Wert ist das? Dass wir uns und unseren Mitmenschen guten Geschmack schulden? Wir müssen nicht jeden Wert verinnerlichen, den andere uns vorleben. Und ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich kann auf diesen Anspruch verzichten. Ich gehe jetzt dann mal Riverdale schauen, meine ...Serie, die ich mag. Und die ich gerne schaue. Im Ernst.

#gedankenzummitnehmen - Teil 5

Gewalt ist nicht relativ

Man könnte meinen, manche Nachrichten sprächen für sich selbst und bedürften keiner weiteren Erklärung. Gibt es nicht bestimmte Ereignisse, die wie ein Aufschrei durch die Bevölkerung gehen sollten? Aber das vergangene Jahr hat mich anderes gelehrt. Vieles ist geschehen: Die globale Klimabewegung ist erstarkt, Dürrekatastrophen und Waldbrände hielten viele Länder in Atem. Doch nicht nur das Klima steckt in einer Krise: In Hong Kong wurden friedliche Proteste niedergeschlagen, das Ausmaß der Gewalt gegen die Uiguren in China wurde bekannt. Dann das Attentat in Christchurch. Währenddessen haben in Deutschland Gewalttaten aus dem rechtsextremen Lager zugenommen: Erst wurde Walter Lübke ermordet, dann geschah der Anschlag in Halle.

Doch der Aufschrei blieb aus, stattdessen wurde nur müde mit den Schultern gezuckt. Auch nach dem Anschlag in Hanau in der vergangenen Woche bleiben viele Menschen erschreckend still. Was ist passiert? Wer glaubt, die Leute hätten keine Energie mehr, sich zu empören, irrt: Die Empörung ist da, nur sind es nicht die dringenden politischen Ereignisse, die sie entfachen. Stattdessen wurden die „Umweltsau“ und AKKs geschmacklose Karnevalsscherze stärker diskutiert als der Mord an Walter Lübke. Auch jetzt ist es manchen Menschen anscheinend wichtiger, auf ihrem Indianerkostüm für Fasching zu beharren, als Anteilnahme für die Opfer in Hanau zu zeigen. Haben wir uns an die Gewalt gewöhnt? Erachten wir es als normal, dass nicht nur global, sondern auch in unserer Gesellschaft marginalisierte Menschen vor Gewalt nicht ausreichend geschützt sind? Streiten wir nur noch um Befindlichkeiten? Oder anders gefragt: Sind wir noch zu retten?

Auf den ersten Blick kann man sich den Widerspruch kaum erklären. Aber vielleicht ist auch die Berichterstattung Teil des Problems. Geht es um Anschläge wie in Halle oder wie vor einer Woche in Hanau, spricht man in den Medien meistens sofort von einem psychisch kranken Einzeltäter. Nun, die Vermutung „psychisch krank“ an sich ist nicht abwegig: Immerhin sind viele Menschen in Deutschland von psychischen Störungen betroffen, auch Kriminelle, auch Gewalttäter. Doch Vorsicht: Die Beschreibung „psychisch krank“ ist höchst ungenau. Man stelle sich vor, wir würden darüber sprechen, eine Person sei körperlich nicht leistungsfähig. Würden wir einfach sagen, sie sei „physisch krank“ und es dabei belassen? Nein. Wir würden fragen: „Ja, was denn genau?“ Lahmes Bein oder Herzprobleme? Nierenleiden oder Migräne? Ebenso wenig Sinn ergibt es, eine Person als „psychisch krank“ zu betiteln und ihr damit Schuldfähigkeit grundsätzlich abzusprechen. Denn der Verlust der Zurechnungsfähigkeit geht nur mit manchen psychischen Krankheitsbildern einher. Liegen diese vor, sollten wir sie konkret benennen, anstatt alle Störungen zu verallgemeinern.

Auch der Begriff des „Einzeltäters“ ist ziemlich vage. Ist damit gemeint, jemand gehöre nicht einer politischen Organisation an? Oder jemand handle aus persönlichen anstatt aus politischen Motiven? Dabei ist es doch bittere Ironie, in einer Gesellschaft, die ihren strukturellen Rassismus nie überwunden hat, einen Rechtsextremisten als „Einzeltäter“ zu bezeichnen. Die typisierten Bezeichnungen „Einzeltäter“ und „psychisch krank“ täuschen eine Erklärung, eine Rechtfertigung vor, wo keine ist. Sie sollen vielleicht beruhigen, ersticken aber jeglichen Diskurs im Keim und beleidigen alle Betroffenen. Zudem ist die Lage viel zu ernst, um einander zu beruhigen. Ebenso wenig hilfreich ist es, Taten zu rechtfertigen, für die es schlicht keine Entschuldigung gibt. Stattdessen sollten wir dringend darüber sprechen, wie wir Betroffene vor rechtsextremer Gewalt schützen können, und dabei die Probleme beim Namen nennen.

#gedankenzummitnehmen - Teil 4

Es könnte wehtun

Der Begriff "Triggerwarnung" wurde vor ein paar Jahren durch die Medien einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Inzwischen ist er überall: Sei es auf Social Media oder sogar in Veranstaltungen an der Uni. Triggerwarnung oder auch Contentwarning. Belastende Themen werden angekündigt, um traumatisierte Menschen im öffentlichen Raum zu schützen. Doch gerade an den Universitäten geht die Diskussion noch weiter: Oft wird gefordert, belastendes Material völlig aus dem Lehrplan zu streichen. Es reicht nicht mehr, vor Gewaltdarstellungen zu warnen, sämtliche Erwähnung von Gewalt und Diskriminierung sollen gestrichen werden.

Doch was bedeuten die Begriffe Trauma und Trigger überhaupt und wie kann man damit umgehen? Das Wort „Trauma“ leitet sich aus dem Altgriechischen ab und bedeutet Verletzung. Verwendet wird der Begriff meistens in psychologischem Zusammenhang. Es gibt viele Ursachen für die Entstehung eines Traumas: Sei es eine Naturkatastrophe, ein Unfall oder ein gewalttätiger Übergriff. Zumindest, was das Individuum betrifft. Denn wenn es um das Kollektiv geht, wird es schwieriger: Auch größere Bevölkerungsgruppen können durch politische Ereignisse traumatisiert werden, zum Beispiel durch anhaltende Diskriminierung, Verfolgung oder gar Vertreibung. Eine große Rolle bei der Aufarbeitung und Behandlung eines Traumas spielen Schlüsselreize, sprich Trigger. Ein Trigger kann die betroffene Person an das einschneidende Erlebnis erinnern und somit Flashbacks auslösen. Manche dieser Schlüsselreize sind für Nicht Betroffene gut nachvollziehbar. Zum Beispiel dürfte es leichtfallen, zu erklären, warum gewaltverherrlichende Sprache das Trauma nach einem Übergriff in die Gegenwart zurückholen kann.

Der Grundgedanke, es nicht nur bei einer Triggerwarnung zu belassen, sondern gleich alle Trigger aus dem öffentlichen Raum zu eliminieren, ist in erster Linie natürlich verständlich. Niemand verdient es, ein Trauma noch einmal zu erleben. Problematisch ist nicht die Absicht, sondern die Tatsache, dass Trigger nicht nur subjektiv sind, sondern auch sehr subtile Wahrnehmungen sein können: Nicht nur Darstellungen des belastenden Themas vermögen es, Flashbacks bei Betroffenen auszulösen. Oft sind es alltägliche Reize, die Betroffene in diese Lage bringen: Bestimmte Sätze, Szenerien, die an den Ort des Traumas erinnern, das Aussehen einer Person, ein bestimmter Klang oder Geruch ... Die Liste ist lang.

Vielleicht können wir keine triggerfreie Umwelt schaffen. Aber wäre das überhaupt der richtige Ansatz? Trauma geht mit einem gewaltigen Kontrollverlust einher. Eben diese Kontrolle können sich traumatisierte Menschen durch Therapie und durch ein sensibles Umfeld zurückholen. Betroffene können lernen, wodurch ihre Erkrankung verschlimmert wird. Haben sie die Wahl, ob sie sich einem Reiz aussetzen wollen oder nicht, können sie sich selbst schützen, ohne ihre Selbstbestimmung zu verlieren. Entscheidet man jedoch über den Kopf des Individuums hinweg, ist das, so nobel die Absicht auch sein mag, ebenfalls eine Form der Übergriffigkeit. Vor möglicherweise belastenden Inhalten in Lehrveranstaltungen zu warnen, ist in erster Linie sinnvoll, reicht aber nicht aus, damit traumatisierte Menschen den gleichen Raum einnehmen können wie nicht Betroffene. Dennoch sollte die Schlussfolgerung nicht der Versuch sein, sämtliches belastendes Material aus dem Lehrplan zu streichen. Stattdessen wäre es wünschenswert, an Hochschulen für Ansprechpartner zu sorgen, an die sich traumatisierte Menschen wenden können und das Lehrpersonal für solche Fälle zu schulen. Natürlich kann eine Lehrkraft keine therapeutische Funktion erfüllen – Es geht darum, ein Umfeld zu schaffen, in der Trauma kein Stigma ist.

#gedankenzummitnehmen - Teil 3

Keine Angst!

Ungefähr fünf bis sechsmal im Jahr stehe ich vor fremden Menschen, um aus meinem Buch zu lesen und hochkomplexe Phänomene zu diskutieren. Vor ein paar Monaten habe ich vor mindestens fünfzig Menschen über meine Panikattacken gesprochen. Ich bin allein weit gereist, habe wildfremden Menschen meine Lebensgeschichte erzählt. Mit etwas Fantasie könnte man mich also für eine Draufgängerin halten. Doch das wäre nicht die ganze Wahrheit. Denn wenn ich eines gelernt habe, dann ist es, dass Mut nicht die Abwesenheit von Angst bedeutet. Angst ist im Grunde ein ziemlich intelligentes Gefühl, das uns Menschen vor gefährlichen Situationen warnt. Es ist also berechtigt, dass sie uns daran hindert, auf das Dach eines zehn Meter hohen Hauses zu klettern oder mit 200 km/h über die Autobahn zu rasen. Doch einige von uns haben schon die Art von Angst empfunden, die rational nicht zu begründen ist. Auch ich bin davon nicht ausgenommen. Deswegen folgt nun eine andere Art der Aufzählung: Manchmal kann ich mit meinen Mitmenschen nicht darüber sprechen, was mich bewegt, obwohl es mir helfen würde. Im Grunde ziemlich paradox, ebenso paradox wie die Tatsache, dass ich Bühnenmomente habe, aber dennoch Referate an der Uni nie mochte. Oder dass ich mich unwohl dabei fühle, in der Natur völlig allein zu sein, wenn mir das mitten in der Stadt nichts ausmacht – dabei ist Letztes streng genommen gefährlicher!

Einigen wir uns darauf: Angst kann sich verselbstständigen und vollkommen irrational sein. Doch ebenso, wie unser Körper lernt, vor den richtigen Dingen Angst zu haben, können wir lernen, unsere Angst abzulegen. Das ist nicht halb so romantisch, wie es klingt. Im Gegenteil, es ist furchtbar unangenehm. Natürlich sind Vermeidungsstrategien viel verlockender: Einfach die Dinge nicht mehr tun, die einem Angst machen. Angst vor Menschenmengen? – Dann gehe ich eben nicht auf Festivals! Angst vor Intimität? – Dann eben Dating ohne commitment. Angst vor der Höhe? – Dann bleibe ich eben am Boden! Angst vor dem Leben? – Und die Vermeidungsstrategie stößt an ihre Grenzen.

Niemand hat gerne Angst. Aber Dinge zu tun, vor denen man sich zuvor gefürchtet hat, kann wirklich befreiend wirken. Und das muss auch nicht von einem auf den anderen Tag geschehen. Vielleicht muss man der Angst vor Menschenmengen nicht gleich mit einem überfüllten Festival begegnen. Und vielleicht muss es nicht gleich die große Liebe mit dem Gang zum Altar sein, wenn man unter Bindungsangst leidet, nicht gleich ein Abstecher in die Berge, wenn man sich vor der Höhe fürchtet. Nein. Es kann schon ein Erfolg sein, sich ein paar Stunden in einer überfüllten Kneipe aufzuhalten, einfach nur einmal auf ein gewöhnliches Date zu gehen oder doch den Aufzug in den fünften Stock zu nehmen. In manchen Fällen ist die Angst zu stark, um es allein zu schaffen. Dann ist es sinnvoll, Hilfe anzunehmen – auch das will gelernt sein – egal, ob man nun psychisch gesund ist oder nicht. Denn es ist ein verbreiteter Irrtum, dass nur kranke Menschen therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen dürfen.

Erschwerend kommt hinzu: Es sind scheinbar nie die anderen. Kaum jemand spricht offen über seine Ängste. Wobei das eigentlich ein interessantes soziales Experiment wäre: Man sperre verschiedene Menschen in einen Raum. Fear talk anstatt small talk. „Hi, ich bin Anna und bin klaustrophobisch.“ „Freut mich, dich kennenzulernen. Ich heiße Daniel und habe Angst vor menschlicher Nähe.“ Ein unwahrscheinliches Szenario, auch wenn es vermutlich einigen von uns nicht schlecht täte. Was ich aber eigentlich damit sagen möchte: Die anderen haben auch Angst. Nicht nur du.

Ironischerweise bewahrheitet sich auch die berühmte fear of missing out, wenn man seinen Ängsten nachgibt: Sich auf jemanden einzulassen, ist ziemlich faszinierend. Festivals können ein ziemlicher Spaß sein. Und wer ist immun gegen eine schöne Aussicht? Auch ich habe schon Dinge verpasst, weil ich zu ängstlich war, bis ich mich entschieden habe, mir diese Stück für Stück zurückzuholen. Inzwischen bringe ich es fertig, mit meinen Freunden über Bedeutendes zu sprechen. Meine Referate an der Uni haben ein gesundes Mittelmaß erreicht. Und seitdem ich festgestellt habe, dass es allein in der Natur ziemlich schön ist, gehe ich regelmäßig allein laufen. Zwar halte ich das nur eine halbe Stunde durch. Aber was soll’s? Die kleinen Schritte zählen auch.

#gedankenzummitnehmen - Teil 2

An alle Weltverbesserer

Practice what you preach, heißt es. In erster Linie klingt es auch sinnvoll. Wenn man etwas ändern will, warum nicht erst einmal kleine Schritte machen und bei sich selbst anfangen? Wer sich für Umweltschutz interessiert, macht sich Gedanken, wie er den eigenen Haushalt nachhaltiger gestalten kann. Und wer sich für Gleichberechtigung stark macht, hinterfragt eigene Rollenklischees und Sexismen. Aber bedeutet das auch im Umkehrschluss, dass man sich erst für ein politisches Thema interessieren darf, wenn man die eigenen Fehler vollständig ausgemerzt hat? Ich sage nein. Denn in Zeiten, in denen innerhalb der politischen Lager erbittert um die Perfektion gestritten wird, wird das Inkonsequentsein zu Unrecht unterschätzt.

Achtung: Dieser Text ist kein Freifahrtsschein. Ich möchte niemanden auffordern, eine Ideologie zu verbreiten, zu der er nicht stehen kann. Aber ich wünsche mir, dass man in politischen Diskussionen auch jene willkommen heißt, die bestimmte Werte noch nicht perfekt leben. „Was, DER geht zu Fridays for Future? Letztes Jahr ist er noch nach Thailand geflogen!“ „Was, DIE nennt Feministin? Sie gendert aber nicht korrekt!“ Vielleicht ist es inkonsequent. Aber: Jeder Mensch ist inkonsequent. Und Inkonsistenz disqualifiziert uns nicht beim Versuch, uns für ein Thema zu sensibilisieren. Oder anders gesagt: Ich wünsche mir, dass die eigene politische Position ausprobiert werden darf und keine perfekte Performance sein muss.

Stellt euch vor, ihr wollt ein Buch schreiben. Euer Kopf platzt vor Ideen, im Grunde seid ihr inspiriert. Doch ihr seid ehrgeizig, das Werk muss gut werden. Andere Menschen sollen euch diese Geschichte abkaufen. Also zerbrecht ihr euch den Kopf, dreht alles hin und her, vermeidet Fehler, recherchiert, unterbrecht, erstellt Konzepte, verwerft diese. Aber habt ihr auch nur eine Zeile geschrieben? Nein. Leeres Papier, Perfektionismus, Gedankenblockade.

Ebenso verhält es sich mit dem politischen Anspruch an sich selbst. Das Private ist politisch. Natürlich spielt es eine Rolle, was wir als Individuen tun. Aber manchmal kommt es mir so vor, als verhielte es sich umgekehrt: Das Politische ist privat geworden. Wir scheuen uns davor, uns der örtlichen Umweltschutzgruppe anzuschließen, weil wir tierische Produkte noch nicht aus dem Speiseplan gestrichen haben. Oder wir gehen nicht zum feministischen Lesekreis, weil wir denken: „Die sind doch alle viel belesener als ich, ich habe nur ein paar Folgen ‘The Handmaid’s Tale’ geschaut, das zählt nicht.“ Aus Scheu und aus Angst vor Abwertung beschränken sich infolge sämtliche politische Aktionen aufs Private. Vielleicht nicht der Lesekreis, aber man kann ja einfach eine gleichberechtigte Beziehung leben und den sexistischen Onkel auf der nächsten Familienfeier konfrontieren. Vielleicht keine Teilnahme an Fridays for Future, aber man trägt ja nur Fair Fashion und nutzt Ecosia. Das reicht doch.

Nein, es reicht nicht. Jeder noch so perfekte Lifestyle kann weder den Planeten retten, noch den gesellschaftlichen Wandel bewirken. Wir brauchen Gemeinschaften. Wir brauchen Menschen, die sich zusammenschließen. Und wir müssen bereit dazu sein, Widersprüche und Fehler zu verzeihen. Oder anders gesagt: Wer nur noch vor der eigenen Haustür kehrt, kann sich nicht mehr um die ganze Straße kümmern.

#gedankenzummitnehmen - Teil 1

Statement? Nein, danke!

Zeit für ein Geständnis: Gerade jetzt, während ich diese Zeilen schreibe, bin ich schon einen Schritt weiter. Ich denke nicht daran, wie ich die nächsten Sätze formulieren oder was ich aus meinen Gedanken machen soll. Was tue ich stattdessen? Ich beschäftige mich damit, wie ich euch Lesern und Leserinnen meinen Text präsentieren kann. Tatsächlich überlege ich mir sogar schon Diskussionsansätze und gute Antworten auf kritische Fragen. Natürlich könnte man sich jetzt die Haare raufen und fragen: „Was stimmt denn nicht mit ihr?“

Mag sein, dass mit mir etwas nicht stimmt und vielleicht bin ich auch ein Teil des Problems. Aber die Ursache liegt nicht allein bei mir selbst. Gerne reden wir uns ein, dass wir Anerkennung nicht brauchen. Selbstfürsorge heißt das Zauberwort, Selbstliebe. #sorrynotsorry. Sich nicht entschuldigen, konsequent zu sich stehen. Aber habt ihr euch einmal ganz ehrlich, vollkommen schonungslos gefragt, wann ihr das letzte Mal etwas getan habt, ohne ein Feedback oder eine Form der Bestätigung zu erwarten?

Kommentieren war nie einfacher als heute. Vor dem digitalen Zeitalter hatte man dazu nur die Gelegenheit entweder im persönlichen Gespräch oder sogar erst durch einen Briefwechsel. Aber das hat sich geändert: Im Jahr 2020 müssen wir nicht einmal mehr unser Haus verlassen oder auch nur mit einer Menschenseele reden, um an einem einzigen Tag unzählige andere Menschen zu bewerten oder selbst von ihnen bewertet zu werden. Wir müssen nicht einmal mehr einer anderen Person ins Gesicht sehen, bevor wir ein Urteil über sie fällen: Über ihre Arbeit, ihr Aussehen, ihr Leben, ihre politische Einstellung. Stattdessen haben wir Kommentarspalten. Direct Messages. Likes. Herzen. Wir teilen Beiträge, melden störende Inhalte. Und während wir das tun, wird das Fenster, durch das wir die Welt betrachten immer kleiner. Natürlich geschieht das schleichend. Es ist in etwa so wie langsam kurzsichtig zu werden. Den Schaden bemerkt man erst, wenn er bereits eingetreten ist.

Aber wenn wir das so empfinden, warum nehmen wir nicht einfach eine Auszeit von Social Media? Oder nutzen einen Tag lang das Internet nicht? Würde das helfen? Denn letztendlich ist das nur eine Symptombekämpfung: Wen treffen wir denn, wenn wir vor die Tür gehen? Richtig – Digital Natives, die an nichts anderes als den Überfluss von Informationen gewöhnt sind. Menschen, die gelernt haben, schnell ein Urteil zu fällen, Statements abzugeben.

Vielleicht erzählen wir im Kreis unserer Bekannten nur etwas völlig Banales. Zum Beispiel, dass wir mit Sport angefangen haben. Und schon zückt unser Gegenüber sein Smartphone, um uns anhand von Dr. Google zu erklären, warum wir unsere Übungen ganz falsch machen und erst einmal einen ganz anderen Trainingsplan brauchen. Und wenn wir im Restaurant unsere Lieblingspizza bestellen, werden wir gratis über den Zucker- und Fettgehalt aufgeklärt, während wir selbst das Aussehen unseres Gegenübers in der gleichen Geschwindigkeit bewerten, in der wir online Herzchen und Dislikes verteilen:

„Ja, aber 40 min Kraftsport sind effektiver als 20 min.“ „Oh, du isst Süßkartoffelpommes, wusstest du, dass die viel gesünder sind?“ „Mit der Limonade hast du deinen Zuckerbedarf für heute schon gedeckt.“ „Dein Kleid ist aber schön, machst du auch diesen Trend mit?“ „Ich fand deine vorige Frisur aber besser.“ „Ach, du bestellst den veganen Burger, das finde ich aber inkonsequent, wenn du nach Griechenland in den Urlaub fliegst.“

Ich sehe jetzt schon, während ich diese Zeilen tippe, die empörten Gesichter, höre aufgeregte Stimmen, die „Meinungsfreiheit“ schreien. Ja, es ist unser Recht, Meinungen gut zu tun. Aber wollen wir diese Art von Kommentaren wirklich als Meinungen bezeichnen? Und die viel wichtigere Frage: Müssen wir wirklich zu allem sofort eine Meinung haben und diese auch kundtun? Aber was ist der Ausweg? Einfach keine Meinung mehr zu haben und alles unkommentiert zu lassen?

Vielleicht könnten wir das nächste Mal, bevor wir online einen „kritischen Kommentar“ hinterlassen, uns lieber fragen, ob wir den Text wirklich aufmerksam gelesen haben und vom Thema etwas verstehen. Und wenn jemand im realen Leben etwas von sich preisgibt, was uns zunächst fremd ist, könnten wir auch sagen: „Erzähl mal.“ Es wäre den Versuch wert.


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