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storiesmattr

#storiesmattr - Teil 4

Schreiben als Ausdauersport

Part I Schmetterlinge und Märtyrer

Wenn ich sage, dass ich freie Autorin bin, also einerseits meine eigenen Geschichten schreibe und andererseits Auftragsarbeiten im Bereich Ghostwriting, Lektorat und Werbung übernehme, variieren die Reaktionen erheblich:

„Oha, voll schön, lebst deinen Traum!“

„Ich könnte das nicht!“ – Trivial, ich kann auch nicht alles. Deswegen basiert die Gesellschaft seit Jahrhunderten auf Arbeitsteilung. Ich bin mir zum Beispiel sicher, dass ich als Assistenz der Geschäftsleitung, Klempnerin oder Buchhalterin eine Niete wäre. Daher übe ich diese Jobs nicht aus.

„Aber … Geld?“ – Formuliere daraus einen ganzen Satz, und wir können sogar eine ernsthafte Unterhaltung darüber führen, wie man mit dem Schreiben Geld verdienen kann.

Spaß beiseite. Die Wahrnehmung dessen, was ich täglich so mache, ist ein ambivalentes Zerrbild. Während die einen denken, kreative Arbeit bedeute hauptberuflich Schmetterlinge zu fangen, halten die anderen mich quasi für einen kreativen Märtyrer. Als würde ich mich vollkommen für die Kunst opfern, weil ich eben nicht anders kann, auch wenn ich dabei aufs Zahnfleisch gehe. Aha.

Spoiler: Es ist natürlich weder noch. Aber wie fühlt es sich denn an?

Part II: Die Wirklichkeit ist selten sexy

Vor etwa 4 Jahren versuchte ich, mich langsam wieder dem Ausdauersport anzunähern. Wir schrieben das Jahr 2019, es war ein langer, dunkler Winter, und meine körperliche Kondition war miserabel – was echt noch höflich ausgedrückt ist.

Nach mehreren Jahren chronischer Schmerzen hatte ich endlich eine erfolgreiche Behandlung hinter mir. Der Preis dafür: Die Medikamente drückten meinen Kreislauf herunter, sodass ich jeden Morgen um acht Uhr vielleicht geistig wach war, mein Körper sich aber anfühlte wie eine Schildkröte in Winterstarre. Mein Arzt empfahl mir, mich langsam wieder an die körperliche Fitness heranzutasten und oft laufen zu gehen.

In einer Sitcom würde man an dieser Stelle den Zeitraffer sehen. Trainingseffekt innerhalb weniger Wochen. Haha. Die Wirklichkeit ist selten sexy. Auf meinen ersten Läufen schaffte ich nur absolute Witzstrecken um den Block, was mich ein paar Mal so sehr anstrengte, dass ich mich heimlich in einen Mülleimer oder ein Gebüsch draußen auf dem Feld übergeben musste. Einmal ging ich an einer Kita vorbei, ein 3-jähriges Kind zeigte auf mich und fragte laut: „Mami, warum ist die Frau so schlecht?“

Das nennt man wohl einen Ego-Boost.

Es dauerte Wochen, bis mir nicht mehr von der Anstrengung übel wurde. Monate, bis ich nicht mehr keuchend und fertig mit der Welt nach Hause kam. Und ein ganzes Jahr, bis ich tatsächlich mal so etwas wie einen Trainingseffekt erleben durfte. Zwei Jahre, bis aus mir eine gute Ausdauersportlerin wurde, der es wirklich Spaß macht, Schwimmen, Laufen und Fahrradfahren zu trainieren. Die sich beim Training tatsächlich glücklich fühlt. Und ähnlich wenig glamourös ist es, in einer kreativen Disziplin besser zu werden.

Part III: Die Sache mit der Anerkennung

Ich schreibe schon sehr lange – beruflich inzwischen seit sechs Jahren. Wenn du noch am Anfang stehst und in einer kreativen Disziplin besser werden möchtest, hab‘ ich also ein paar Ratschläge auf Lager.

1. Wenn du anfängst, erwarte keinen Geniestreich. Deine ersten Versuche, sei es in der Musik, beim Zeichnen, Malen, in der Bildhauerei, Fotografie oder im Schreiben, werden ungeschickt sein. Weil Geschick eben durch jahrelange Übung entsteht. Vermutlich wird dich auch erst einmal niemand erst nehmen. Das Gute ist – du kannst dich selbst ernst nehmen. Zumindest deine Entwicklung und dein Ziel, täglich besser zu werden.

2. Wenn du weitermachst, erwarte keinen sofortigen Beifall und lerne stattdessen, Zweifel auszuhalten. Und ich meine damit nicht, dass du keine Fortschritte machst – sicher machst du welche. Nur funktioniert die Welt so nicht. Die Sache mit der Anerkennung ist die, dass wir sie häufig erst im Nachhinein erhalten. Also dann, wenn wir sie gar nicht mehr brauchen.

Vor vier Wochen bei einem Lunchdate klopfte mir eine Bekannte auf die Schulter: „Ich finde es zielstrebig, dass du schon während des Studiums das mit dem Schreiben so verfolgt hast.“

Und ganz ehrlich – ich fand das nett von ihr. Nur bin ich mir sicher, dass damals im vierten Bachelor-Semester Germanistik das so gut wie niemand über mich dachte. Stattdessen hielten viele andere Studierende vom Heidelberger Seminar mich bestenfalls für eine ambitionierte Teilzeit-Tippse. Ein Dozent verpasste mir sogar den ziemlich schmeichelhaften Spottnamen „Käthchen von Heilbronn“. Yeah.

Was ich damit sagen will: Wenn du deine kreative Arbeit ernsthaft weiterverfolgst, wirst du dich jahrelang in Geduld üben. Und darin, Zweifel auszuhalten – damit meine ich sowohl deine eigenen als auch die der anderen.

Part IV: Ein roter Faden

Was mich wieder zum Vergleich mit Ausdauersport bringt. Denn egal, ob du versuchst, deine Laufstrecke endlich besser hinzubekommen oder ein*e besser*e Autor*in, Künstler*in oder Musiker*in zu werden. Die Fragen, die du dir auf dem Weg stellst, sind sich überraschend ähnlich:

„Warum dauert das so lange?“

„Schaff ich das?“

„Bin ich einfach nur zu schlecht?“

„Warum lachen die über mich?“

„Was mach ich hier eigentlich?“

Es ist nicht 24/7 Begeisterung und Motivation. Oft bist du nicht on fire, sondern glimmst eher schwach vor dich hin. Und manchmal kommt die Freude erst dann, wenn du einen Blick zurückwirfst und dir anschaust, was du schon geschafft hast.

Es ist aber durchaus: Ein roter Faden. Egal, wie unvorhersehbar und verworren dein übriges Leben ist, kannst du dich an dieser Herausforderung erproben. Wenn du nicht nur ein kreativer Mensch bist, sondern auch einer bleibst, beweist du dir selbst etwas sehr Wichtiges: Dass du nicht einfach aufgibst, sobald es mal schwierig wird. Und dass du immer etwas mit deiner wertvollen Lebenszeit anzufangen weißt.

So fühlt es sich an.
#storiesmattr - Teil 3

Das Pacman-Dilemma

Part I: Ist #foodporn oberflächlicher als ein Stillleben?

„Meine Nichte hat‘s mir erklärt. #foodporn heißt das. Ich habe mich als Erstes gefragt, ob das überhaupt jugendgerechte Inhalte sind. Aber es sind wohl einfach hübsch hergerichtete Speisen, die man dann fotografiert und auf instagram postet. So ganz verstanden habe ich es nicht. Jede Generation hat wohl ihre exhibitionistischen Tendenzen“, meinte Prof. Dr. A. und reichte die Textblätter für den Lektürekurs im Seminarraum weiter.

Ich weiß nicht mehr, wie meine damalige Professorin und außerdem Leiterin des Germanistischen Seminars in Heidelberg darauf kam. Immerhin saßen wir in einem Lektürekurs über deutsche Literatur zwischen den beiden Weltkriegen. In der restlichen Stunde ging’s jedenfalls wieder um Gottfried Benns opportunistische Abwärtsspirale im Jahr 1933.

Gegen Ende der Stunde trat ich nach vorne ans Pult. Prof. Dr. Albrecht arbeitete die Anwesenheitsliste ab. Ihr Kugelschreiber drückte kleine rote Kreuzchen in die freien Fenster.

„Frau Bender, haben Sie noch eine Frage zu Ihrer Seminararbeit?“, fragte sie direkt.

„Nein. Eher eine Antwort auf ihre Frage, was das mit dem Foodporn soll“, meinte ich.

Sie schaute zu mir und strich sich das graue, messerscharf geschnittene Haar hinter die Ohren. Normalerweise verließ ich immer direkt den Seminarraum. Im Germanistikstudium war ich alles andere als ein teacher’s pet – und konnte sehr gut damit leben. Aber die Kurse bei Prof. Dr. A. hatte ich immer gemocht. Mir gefiel ihre analytische, gelassene Art, die sich von vielen der älteren, konservativen Dozenten unterschied.

„Ich höre.“

„Wenn man es genau nimmt, ist die Idee nicht neu. Mein Zweitfach ist Kunstgeschichte. Essensstillleben aus dem Barock finden Sie in jedem Kunstmuseum. Entwickelt haben das niederländische Maler aus dem 17. Jahrhundert. Dafür gab es mehrere Gründe. Zum einen waren die Meister aus dem Norden bekannt dafür, Materialien besonders realistisch darstellen zu können – also Stoffe, Metalle, Glas oder eben Essen. Zum anderen konnte man damit Reichtum und Überfluss in unsicheren Zeiten darstellen. Es war ein Alleinstellungsmerkmal, sich üppig gedeckte Tafeln, tropische Früchte und guten Wein zu leisten.“

Ich schulterte meine Tasche.

„Und ich glaube, #foodporn auf instagram ist dem Ganzen nicht unähnlich. Es geht schon um das Fest der Sinne, um die Begeisterung fürs Essen, aber nicht nur. Menschen definieren sich oft über das, was sie essen. Ebenso über das, was sie nicht essen. Es geht um Identität. Manchmal auch um Macht und Selbstüberhöhung. Den Restaurantbesuch muss man sich leisten können, ebenso wie den Bio-Laden. Und wer nicht selbst kochen kann, schafft es auch nicht, das Essen fotogen aussehen zu lassen.“

Sie lehnte sich zurück und nickte.

„Interessant. Danke.“

„Gern. Bis zum nächsten Mal“, ich nickte ihr zu und trat hinaus auf den Flur.

Part II: Das defensive Abendmahl

Was wir essen, was wir nicht essen. Welches Essen wir demonstrativ konsumieren und welches heimlich – das Thema ist immer präsent. Ich würde sogar so weit gehen und behaupten, es ist beinahe unmöglich, mit anderen Menschen zusammenzutreffen und das Thema Ernährung nicht anzuschneiden.

Wenn ich mit meiner Bekannten im Café sitze, bestellt sie nicht einfach das vegetarische Sandwich – sie muss mir dann auch lang und breit erklären, warum sie jetzt #veganuary macht. Eigentlich habe ich nicht gefragt.

Wenn mein entfernter Cousin auf der Grillparty hört, dass der Salat vegan ist, schiebt er ihn demonstrativ weg und weigert sich zu probieren. Aus Prinzip, sagt er. Ich frage mich, was er damit meint. Neophobie? Angst vor Veränderung?

Wir sind bei Freunden eingeladen. Weil das Essen von Lieferheld noch nicht da ist, snacke ich ein paar Chips. Zumindest bis einer von ihnen mir die Tüte aus der Hand schnappt, auf die Zutatenliste kuckt und laut kommentiert: „Das ist schon echt totaler Mist, das Fett, das Salz, die ganzen Zusatzstoffe.“ Ich verspüre große Lust, den nächsten Kartoffelchip nach ihm zu werfen.

Nur um nicht missverstanden zu werden: Ich muss mir mit meinen Mitmenschen nicht über das Thema Ernährung einig sein. Ich bin weder überzeugte Veganerin noch extreme Fleischesserin. Pflanzenmilch trinke ich, weil sie mir besser schmeckt und ich die Laktoseintoleranz meines Vaters geerbt habe. Trotzdem finde ich die Lobeshymnen auf der Verpackung, ich würde mit einem Glas Hafermilch die Welt angeblich zu einem besseren Ort machen, albern. Süßes brauche ich nicht unbedingt, dafür könnte ich für knusprige belgische Pommes, frittiert in ungesundem Rinderfett, morden. Manchmal ist mein Appetit auf scharfe Sriracha-Soße größer als mein Magen. Essen sollte meiner Meinung nach vor allem schmecken und nicht fotogen sein. Schon mal versucht, Eintopf #instagrammable aussehen zu lassen? Aber das ist meine Empfindung – es ist mir relativ egal, wie andere Menschen das machen.

Früher habe ich die Besessenheit unserer Gesellschaft einfach abgenickt. Vermutlich habe ich das Muster auch ein paar Mal nachgemacht. Einfach aus Gewohnheit.

Inzwischen stelle ich mir Fragen:

Warum bestellt meine Bekannte nicht einfach das vegetarische Sandwich und fertig? Warum verzichtet mein Cousin nicht auf den Salat, ohne sich demonstrativ von Veganismus abzugrenzen? Und warum muss dieser Freund von mir die Kartoffelchips als „böses Essen“ bewerten, anstatt einfach andere Snacks zu essen?

Part III: Die passende Buchempfehlung: „Gesund genug“ von Ursula Fricker

Ein Perspektivenwechsel war für mich der Roman „Gesund genug“ von Ursula Fricker (Atlantis Verlag, Zürich, 2022). Das Buch ist eher kein Bestseller gewesen, wurde aber extrem positiv in der Literaturkritik besprochen. Ganz persönlich hätte ich mir für die Erscheinung mehr Aufmerksamkeit gewünscht, da ich die Lektüre bereichernd fand.

Die Erzählung beginnt damit, dass die Protagonistin Hanne einen Anruf erhält. Ihr Vater liegt im Sterben. Von ihrem Wohnort Berlin fährt sie zurück in die Schweizer Heimat, um ihn in seinen letzten Wochen zu begleiten. Todkrank liegt er im Bett, die einzige Lektüre, die er noch erträgt, sind die letzten Aufzeichnungen des gescheiterten Antarktis-Forschers Robert Scott. Und sobald Hanne und ihr Vater sich auf die literarische Reise zum Südpol begeben, zu einem Scheitern in unbarmherziger Eiswüste, flammt auch ein alter Konflikt zwischen Vater und Tochter wieder auf.

Denn ihre ganze Kindheit und Jugend lang hat der Vater seine Familie mit einem vollkommen übersteigerten Gesundheitswahn terrorisiert. Jahrzehnte bevor Vegetarismus und Konsumkritik die Runde machten und Alnatura-Märkte wie Pilze aus dem Boden sprossen, schafft ihr Vater sich klare Feindbilder: „Alle Welt wollte Alwin Tobler vergiften, insbesondere die Fleischlobby, die Zuckerlobby, die Pharmalobby, die Autolobby (…) Die Lösung? Verzichten. Auf alles. Für die Umwelt, für die Gesundheit. (…) Man zieht eine Grenze, man errichtet eine Mauer. Die dort, wir hier.“

Als Leser*innen verfolgen wir Hannes Lebensweg, beobachten, wie sie durch die Welt taumelt, erst in London, dann in Berlin abtaucht. Hanne verliebt sich, mehrmals, sucht Anschluss in Künstlerkreisen, tut alles, um sich von den familiären und inneren Zwängen zu befreien. Doch das ist keine lineare Entwicklung. So sehr Hanne den Extremismus ihrer Kindheit verabscheut, hat sie ihn doch verinnerlicht. Radikale politische Bewegung – sei es Ökos, christliche Fundamentalisten, Antifaschisten, IRA-Sympathisanten in London – sind für sie ein Magnetismus, von dem sie sich zugleich angezogen und abgestoßen fühlt.

Und manchmal holen die Ansichten ihres Vaters sie auch in ihrem künstlerischen, unkonventionellen Berliner Freundeskreis ein. Denn einige ihrer Freunde im Prenzlauer Berg verfallen dem neu aufkeimenden Gesundheitswahn. Für Hanne ist das eine Wiederholungsschleife, wenn es ihnen nicht reicht, auf Fleisch zu verzichten und im Bio-Markt einzukaufen – sie müssen jedem verkünden, der es nicht wissen will, dass sie nicht mehr „ihren Körper vergiften wollen.“

Ich beendete die Lektüre von „Gesund genug“ mit einem Gedanken:

Vielleicht geht es bei der Identifizierung über das, was auf dem Teller landet, um etwas anderes. Ein Thema hinter dem Thema, sozusagen.

Part IV: Das Pacman-Dilemma

Kennt ihr noch Pacman? Das japanische Videospiel aus den 80ern ist ein zeitloser Klassiker. Eine runde gelbe Spielfigur, Pacman, frisst sich durch ein Labyrinth, während er von Gespenstern verfolgt wird. Verzehrt er eine „Kraftpille“, kehrt sich das Szenario um und Pacman verfolgt die Gespenster.

Und vielleicht ist das defensive Abendmahl ein Pacman-ähnliches Dilemma. Solange man glaubt, zu sein, was man isst, verfolgen einen die Geister durch das Labyrith.

Ich kann die Sehnsucht, mit den eigenen Ansichten eins zu werden, verstehen, weil die Welt mit jedem Jahr komplexer wird. Es ist keine Entschuldigung für Radikalismus, für ein „Ich und die Anderen“-Feindbild, aber zumindest eine Erklärung. Nur führt diese Sehnsucht in einen Teufelskreis. Man wird zum Eiferer, weil man dazugehören will, grenzt sich aber letztendlich immer weiter ab. Bricht vielleicht sogar mit anderen Menschen.

Wer sich nicht verlieren will, muss lernen, den Kontrollverlust zu ertragen.
#storiesmattr - Teil 2

Busy

Part I: Schlucken und Würgen

Es ist 12.30 am Mittag und das Café halbvoll. Auf manchen Tischen stehen aufgeklappte Macbooks und an den Fenstern setzt sich etwas trüber Wasserdampf ab. Die Gäste, die von der Fußgängerzone hereinkommen, reiben sich ihre kalten Hände und mustern mit geröteten Wangen die angeschriebene Tageskarte. Eine Suppe, ein Salat und ein Sandwich im Angebot.

Vielleicht sind wir beide etwas früh dran für eine Mittagspause, auch wenn mein knurrender Magen etwas anderes sagt. Vielleicht schenke ich deswegen der rothaarigen Serviererin mit Goldbrille und großflächigen Tattoos ein besonders breites Lächeln, als sie mir den O-Saft und das gegrillte Sandwich mit dicker Avocado-Lachs-Schicht hinstellt. Mein Gegenüber dagegen reißt ihr förmlich den Kaffee vom Tablett und verkündet: „Oh endlich, ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal acht Stunden Schlaf hatte!“

Ich beiße in mein Sandwich – könnte etwas mehr Avocado und dafür weniger Pfeffer sein. Doch mein Gegenüber schaut mich so erwartungsvoll an, dass ich nachgebe und frage: „Oh, warum denn?“

Die nächsten zwanzig Minuten komme ich nicht zu Wort, denn mein Gegenüber ist ganz in seine Litanei versunken. Er geht auf diese Konferenz, um jenes zu präsentieren. Fokusgruppe, ich versteh schon? Steht auf um 5 Uhr früh, man muss ja erst mal im Fitti ne Runde pumpen gehen, bevor man am Schreibtisch sitzt. Geht abends nichts ins Bett, weil zu busy, Projekte und so. Den ganzen Tag Meetings, jaja, wie war das noch mit Privatleben?

Ein bisschen hört es sich so an, als hätte man instagram-Accounts dubioser Live-Coachs, Kalendersprüche und eine Menge Buzzwords an eine KI verfüttert, das Ganze kräftig durchquirlt und nun meinem Gegenüber in den Mund gelegt. Bereitwillig spuckt er die Daten aus, während er sein Essen in beängstigender Geschwindigkeit herunterwürgt. Wird er zuerst an seinem Salat oder an seinen To-Dos ersticken?

Ich nippe an meinem O-Saft. Sein Lachen ist gefallsüchtig, es blitzt ein flehender Hunde-Blick dahinter auf. So als wäre es jetzt sein sehnlicher Wunsch, dass ich ihm hier mitten im Café den Kopf täschle und lobe: „Ja, brav bist du!“

Doch stattdessen bleibe ich ruhig sitzen und warte, bis er sich in seinem Redefluss unterbricht und kurz vor Ende unserer verabredeten Zeit einwirft:

„Ach, und wie geht es dir eigentlich? Was machst du? Schreibst du?“

Part II: Marzipankartoffeln an der Haltestelle

Ruhig stelle ich mein Glas ab und sammle mich für eine Antwort. „… Dass du dich einfach stundenlang hinsetzt und dich auf einen Text konzentrierst. Und immer so viel Zeit in jedes Projekt steckst, Monate teilweise. Ja wirklich, ich könnte das nicht. Schwer, oder?“

Ich bleibe still. Wenige Minuten später verabschiede ich mich, laufe ein paar Schritte durch die Fußgängerzone, kaufe mir bei einer der Fressbuden von der Kirmes ein paar Marzipankartoffeln in kleiner Geschenktüte aus rotem Papier. Die Tüte passt perfekt in die Manteltasche. Ich beiße kleine Stückchen davon ab, nussig-süße Bissen, während ich zur Haltestelle schlendere und auf die Bahn warte. Dazwischen rattern die Gesprächsfetzen durch meinen Kopf.

Ja, wie geht es mir? Ich schreibe und es geht mir gut. Eigentlich sogar sehr gut. Dennoch frage ich mich zunehmend, ob ich weiter Zeit damit verbringen möchte, mich dem Kreuzfeuer fremder Agendas und demonstrativer Geschäftigkeit auszusetzen. Busy ist das neue Statussymbol. Zu betonen, wie wenig Zeit man hat – vergleichbar mit dem Flexen des Bizeps am Strand.

Part III: Der Preis der Geschäftigkeit

Mein Gegenüber hat mich gefragt, wie ich mich stundenlang auf einen Text fokussieren oder einem Buchprojekt ganze Monate widmen kann. Ich glaube, es liegt daran, dass ich genau das eben will. Und ich habe den Eindruck, dass viele geschäftige Busy-Menschen nicht mehr bereit sind für Herausforderungen, die man nicht schnell herunterwürgen und schlucken kann, sondern die man erst ordentlich verarbeiten muss. In der Zeit, die es eben braucht.

Zeit, in der man die Stille ertragen muss. Zeit, in die man eintaucht, nur vage das Ziel sieht und manchmal Nervosität und Panik verspürt. Zeit, in der man sich selbst hinterfragt und bereit ist, an den eigenen Ideen zu rütteln, bis sie endlich besser werden.

Busy sein ist da die Verführung. Eine Versuchung dazu, eben diese Stille nicht zu ertragen und sie mit eng getakteten Terminen zu füllen. Man muss nicht an sich zweifeln, solange man geschäftig ist, oder? Denn Gott bewahre, dass man sich einmal in einem ruhigen Moment fragt, was man da eigentlich tut.

Nichts auf dieser Welt ist umsonst. Es gibt einen Preis fürs Geschäftigsein. Busy bedeutet häufig, nicht auf allen Hochzeiten, sondern auf gar keiner zu tanzen. Die Aufmerksamkeitspanne eines Eichhörnchens auf Speed zu haben. Keine richtigen Gespräche mehr zu führen, sondern ein Aufmerksamkeits-Battle, wer den vollsten Terminkalender hat.

Und ich weigere mich, diesen Preis zu bezahlen.

Part IV: Der Wert der Konzentration

Nicht falsch verstehen: Das hier ist kein Plädoyer dafür, ab sofort nur noch den ganzen Tag in der Hängematte zu chillen. Es tut gut, Aufgaben zu haben und sich Herausforderungen zu stellen. Ich arbeite gern. Auch ich habe meinen Ehrgeiz, meine Ziele, meine Motivation.

Wenn ich frühmorgens aufstehe, freue ich mich schon darauf, mit meiner Arbeit zu beginnen. Den Computer hochzufahren, den Texteditor zu öffnen und lange am Stück laut auf meiner Tastatur zu klappern.

Doch diese Zeilen werden einfach objektiv besser, wenn ich nicht einhundert Tabs offen habe – und das meine ich sowohl im übertragenen als auch wörtlichen Sinne. Längst habe ich verstanden, dass kein noch so eiserner Wille die Biochemie des Gehirns besiegen kann. Ich ignoriere nicht das, worauf viele Stimmen aus der Hirnforschung und Lernpsychologie seit Jahren hinweisen: Dass weniger oft mehr ist. Dass ein kurzer Arbeitstag weitaus produktiver sein kann als ein langer, weil ein erholtes Gehirn mehr kann. Lieber vier konzentrierte Stunden einer Aufgabe widmen als acht fahrige.

Ich wäre dafür, dass wir die Konzentration neu schätzen zu lernen. One Day at a Time. Eine Aufgabe nach der anderen. Ja, ein Tag hat nur 24 h. Vielleicht schaffen wir nicht alles und können nicht überall dabei sein. Und wir müssen ab und zu sagen: „Nein, aber danke“ – Zur Konferenz, auf der wir uns hätten vernetzen können. Zum Projekt, das vielleicht ganz gut zu uns gepasst hätte. Zum tiktok-Account, auch wenn man damit eine wirklich große Reichweite erreichen kann.

Ganz ehrlich: Ich kann damit leben, ab und zu Nein zu sagen. Übrigens schaffe ich es auch gelassen zu bleiben, wenn meine Mitmenschen mir entsetzt vorbeten, was ich doch noch alles muss. Nein, muss ich nicht. Vergleichen wir doch einmal global, in was für einer freien Gesellschaft wir leben. Wenn man es ganz genau nimmt, müssen wir alle doch recht wenig.

Und ich darf dafür diese Freude behalten, in einen richtigen Flow zu kommen. 100% Fokus. Ich bin dankbar, dass ich diesen Text in Ruhe schreiben darf, ohne an To-Dos zu denken. Ebenso froh bin ich darüber, dass ich letzte Woche das Kaffeedate in der Heidelberger Altstadt mit meinem guten Freund J. genießen durfte, der seinen süßen zweijährigen Sohn dabei hatte. Wir haben nicht auf die Uhr geschaut und einander vorgetragen, was wir alles zu tun haben, sondern uns einfach unterhalten. Und heute Abend werde ich nach getaner Arbeit mich ebenso sehr in die Aufgabe vertiefen, ein schönes Essen zu kochen und anschließend mein neues Minecraft-Lego-Set aufzubauen.

Also, Busy-Leben: Ich brauche dich nicht. Mach’s gut.
#storiesmattr - Teil 1

Berlin

Part I: Joseph Roth und Chanel No. 5

Bücherflohmarkt am Bodemuseum. Es ist ein eiskalter Frühlingstag und ich pirsche mich an die Beute an. Ich bin auf der Jagd nach Klassikerschnäppchen und finde sie in den riesigen Plastikboxen sauber aneinandergereiht: Werke des 18. und 19. in bunten Leineneinbänden, moderne Klassiker mit nikotingefärbten Seiten und abgeranzten Papiereinschlägen.

Am meisten mag ich die Widmungen und Namen, die Vorbesitzer in die Buchdeckel geschrieben haben: „Für Ingrid, in Liebe dein Volker. 1973“ oder „G.T. Berlin 1987“.

Am Stand gegenüber kucken noch ein paar verirrte Bücherwürmer zwischen den aufgehängten Pelzmänteln durch – aus irgendeinem Grund hat auf Berliner Flohmärkten immer irgendwer irgendeinen Pelz zu verkaufen. Es sind diese Pelze, die nach roten Farbbeuteln und wütenden Peta-Artikeln aussehen. Mir kommen sie meistens wie der Hilfeschrei einer gealterten Grand Dame vor. Einer, die sich den knallroten Lippenstift wie der Joker von einem Ohr zum anderen zieht, den Kaffee mit Zucker und Sahne bestellt und bei jeder Familienfeier beteuert, sie sei doch mal ein heißer Feger gewesen. Einer, die unter dem Pelzmantel-nasser-Hundgeruch nach Chanel No. 5 riecht.

Ich finde eine Spinnennetz-Ausgabe von Joseph Roth. Sie riecht nach Weed; jemand hat die letzte Seite durchgestrichen und mit Bleistift vehement „Schwachsinn!“ drunter gekritzelt – 1 €.

Part II: Berlin, in Schichten

Für einen Moment habe ich dich aus den Augen verloren.

Ich finde dich vor einem großen Biertisch mit Kratzdecke, auf dem die Bücher in transparenten Plastikhüllen liegen. Auf den Kopf gestellt wirkt die Sammlung wahllos – ein paar Fotoalben, Taschenbücher mit Frakturschrift auf dem Deckel, alte Tagebücher. Bis ich die Jahreszahlen auf den kleinen Post-its lesen kann. Es sind keine politischen Schriften dabei, aber Zeugnisse von Menschen, die einen oder gar zwei Weltkriege erlebt haben. Tagebücher von der Front, Briefwechsel und -marken aus dem 30er und 40er-Jahren, ein Eisernes Kreuz, ich erkenne sogar ein paar historische Lebensmittelkarten und Reichsmarkmünzen.

Leise unterhalten wir uns darüber, dass Berlin manchmal einer Ausgrabungsstätte in Schichten gleichkommt. Es gibt Brüche, Krater, Stellen, an denen das Grauen des Faschismus freigelegt ist, die Brüche der Teilung. Dann wieder Stellen, an denen man genau diese Spuren der Vergangenheit mit einer Planierraupe plattgedrückt und durch frisch lackierte Wohnbauten oder ein Einkaufszentrum ersetzt hat. Nicht zu vergessen die historische Sensationsgier. Dafür müssen wir nur ein paar Stände weitergehen, da gibt es Kriegs- und Sowjetkitsch in Form von nachgemachten Rote Armee-Uniformen und Gasmasken. Wie merkwürdig dieses Nebeneinander ist.

Part III: Die Wut

Unser Gespräch wird unterbrochen. Von einem Gesicht unter (alt)modischem Topfschnitt, die Haut fast so rot wie die Mütze auf dem Kopf. Wie ein Dampfkochtopf, aus dem die Luft noch raus will. Es zischt. Dann die Explosion: „WARUM VERKAUFEN SIE NAZIBÜCHER?“ Die Antwort des Verkäufers – ihm gehöre die Sammlung nicht, selbstverständlich würden sie nichts mit verfassungsfeindlichen Symbolen verkaufen, die Artikel seinen Zeugnisse der Zeit, keine verherrlichenden Nazi-Devotionalien – gehen unter. Über die Ansicht des Verkäufers könnte man diskutieren. Doch ich glaube nicht, dass die wütende Frau das auch will. Jemand der in dieser Lautstärke über den Flohmarkt brüllt, wünscht sich kaum Antworten. Vielmehr, dass jeder auch ihre Anklage hören kann.

Part IV: Zeitzeugnisse oder Gruselkabinett?

Es ist nicht so, dass ich die wütende Frau nicht auch in Teilen verstehen kann. Und ihr nicht abkaufe, dass sie es gut meint.

Vor Jahren besuchte ich mit einer Freundin die Prager Altstadt, wo ganze Straßenzüge voll von Antiquitätenläden waren, die Fascho-Kitsch im eigentlichen Sinne verkauften. In diesen Läden sahen wir doch tatsächlich „Mein Kampf“-Ausgaben, antisemitische Propaganda-Schriften und Waffen, verziert mit SS-Logos. Dass es sich bei einigen dieser Dinge um Replika handelte, machte es wohl kaum besser. Da waren die verfassungsfeindlichen Symbole kein Tabu, das man nicht brach, sondern ein Verkaufsargument, schön ausgeleuchtet in staubigen Vitrinen. Zur sensationellen Belustigung angetrunkener Touristen. Ich erinnere mich an mein Entsetzen, als ich einen von ihnen dabei beobachtete, wie er eine Mütze mit H*ken*k***z kaufte, sie aufsetzte und damit ungeniert auf die Straße ging. In einer Stadt, die 1939 von den Nazis gewaltsam unterjocht wurde.

Mir kommen die Zeitzeugnisse auf dem Flohmarkt am Bodemuseum nicht wie das verherrlichende Nazi-Gruselkabinett in Prag vor. Eher wie eine Erinnerung daran, dass es diese Zeit gegeben hat, dass es diese Kriege gegeben hat. Und dass unsere Vorfahren wahrscheinlich nicht „nur Funker“ im Krieg waren, so gerne wir das auch glauben möchten.

Part V: Friedrichsstraße, damals und heute

Der Rückweg führt uns über den Bahnhof Friedrichsstraße. Der Bahnhof, dessen Fassade denkmalschutzgerecht saniert wurde und auf dessen Vorplatz ein Denkmal an das Schicksal der geretteten und verlorenen jüdischer Kinder erinnert. Von der früheren Teilung in West und Ost sieht man aber im Bahnhofsgebäude kaum noch etwas. Wenn die Geschichten stimmen, die man sich früher am Familientisch erzählte, wurde meine Tante hinter dem DDR-Grenzübergang mit 16 verhaftet, weil sie Westmark mit falschen Wechselkurs in Ostmark umtauschte.

Als wir umsteigen, fragst du mich: „Was war das gerade?“

„Vermutlich Überforderung.“

Part VI: Mall of Berlin

Meiner Ansicht nach gibt es zwei Sorten Waschräume:

1. Die tröstende Sorte, in der man in kleinen Schälchen Tampons, Taschentücher Deos und Handcreme angeboten bekommt. Jene, die einem sagt: „Mieser Tag? Ist okay.“

2. Die einschüchternde Sorte, in der das Licht über dem Spiegel einem Augenringe bis zum Mond zaubert. Jene, die dir sagt: „Du bist nicht fancy genug für diesen Ort!“ und dir ihre Verachtung mit goldenen Verzierungen im Warteraum und verdreckten Klokabinen zeigt.

Die Damentoilette in der Mall of Berlin ist eindeutig Letzteres. Ich lächle einer rothaarigen jungen Frau in weißer Lederjacke zu, mache Platz für sie am Waschbecken und wundere mich, dass sie mein Lächeln nicht erwidert. Bis mir auffällt, dass sie genau das nicht tun kann.

Draußen finde ich dich wieder, mit dem Fuß auf dem Barack-Obama-Zitat: „Völker der Welt – schaut auf Berlin, wo eine Mauer fiel, ein Kontinent sich vereinigte und der Lauf der Geschichte bewies, dass keine Herausforderung zu groß ist für eine Welt, die zusammensteht.“ Die im Fußboden eingelassenen Zitate, nicht nur von Obama, auch von Willy Brandt, Angela Merkel, JFK und Ronald Regan fordern uns auf, wir sollen hoffnungsfroh sein, für eine geeinte Welt einstehen und gegen den Krieg. Mit Sicherheit sollten wir das auch, aber es ist leichter gesagt als getan. Aber die Mall of Berlin ist clever designt. Denn wenn das mit der Hoffnung nicht so klappt, weil die Welt sich gerade gar nicht eins anfühlt, können wir immer noch den Blick von unseren Füßen auf die Ladenzeile wenden. Falls alle Stricke reißen, bleibt ja immer noch Konsum.

Vielleicht sieht man, was man sehen will, aber ich kann die Überforderung überall erkennen. Ich erkenne sie bei meinem Spaziergang im Tiergarten, als das Freddie-Mercury Double mit Micropony vor dem Burgerking ausrastet und über den neuen veganen Whopper schimpft. Aber auch bei meinen alten Freunden. Die einen finde ich gefühlt jede Woche auf einer anderen Demo, die anderen weigern sich schlichtweg, noch über den Zustand der Welt zu reden, weil „mental health und so.“

Ich bin irgendwo dazwischen, denke ich wieder einmal, auch als ich im Foodcourt meine Pho-Suppe mit frittierter Ente gegessen habe und mir eine Push-Benachrichtigung auf meinem Smartphone mitteilt, dass Putin nach einer Scheinwahl in Russland wieder Präsident ist.

Part VII: Es gibt nur eine Schwerelosigkeit

Eigentlich gehöre ich nicht hierher. Und dennoch sitze ich an diesem Abend in einem klobigen Sichtbeton-Hörsaal an der TU Berlin bei einem Vortrag der Deutsch-Physikalischen Gesellschaft, mit geliehenem Namensschild in der zweiten Reihe und schaue aufs Podium. Dort steht ein rothaariger, trainierter, etwa 40-jähriger Mann. Er lacht über den Witz des Moderators, duzt das Publikum. Meine erste Einschätzung: Er ist der nette Typ von nebenan. Nur trägt dieser nette Typ von nebenan einen blauen ESA-Raumanzug. Und war schon ein paar Mal auf der ISS. Dabei auf dem 2014-Raumflug: Die Maus. Und 2018: Die Flagge der Deutsch-Physikalischen Gesellschaft. Darf ich vorstellen, Alexander Gerst.

Wir sehen die Aufnahmen vom Start der Sojus-Rakete in Kasachstan auf großer Leinwand. Dann ein selbstgeschossenes Foto davon, wie Alexander Gerst im letzten Warteraum vor der Startrampe seine Schuhe auf der Erde vergessen hat. Bilder aus dem Inneren der Rakete. Wie muss es sich anfühlen, wenn der eigene Körper der vierfachen Erdbeschleunigung ausgesetzt ist? Wenn einem das Blut in die Beine gedrückt wird und der Druck im Kopf ansteigt? Und was macht Alexander Gerst auf den Startfotos in der Sojus-Rakete? Er grinst. Als wären das Schnappschüsse aus einer Achterbahn im Freizeitpark.

Bei seinem zweiten Raumflug 2018 war Alexander Gerst Commander der ISS. Ich stelle mir vor, wie es klingt, wenn er sich irgendwo so vorstellt: „Ja, hallo, Alexander Gerst hier, Commander der ISS.“

Besagter Commander zeigt uns wissenschaftliche Experimente, die er mit seinen Kollegen an Bord der ISS durchgeführt hat, biologische, medizinische. Pflanzenwachstum und Krebszellen im All. Weil man Schwerelosigkeit auf der Erde nun einmal nicht simulieren kann.

Schnitt, Filmabend auf der ISS. Die Astronauten festgeschnallt in ihren Kojen schauen einen Pixarfilm.

Ob wir wüssten, dass man Krieg vom All aus sehen kann? Nein, das haben wir nicht gewusst.

Seine kindliche Begeisterung macht der ernsten Miene Platz. Er zeigt uns Fotos seiner fränkischen Heimat, aus dem All geschossen. 2014 sind die Wälder noch grün, 2018 fast vollkommen verbrannt. Ich finde, dass die Astronauten bei der Landung mit der Sojus-Kapsel auf einem kasachischen Acker etwas weniger begeistert schauen als beim Start. Die Kapsel liegt auf der Seite, die Astronauten an den Wänden festgeschnallt. Der russische Astronaut Sergei Prokopjew hängt horizontal an der Wand der Kapsel über Alexander Gerst, kuckt angespannt auf ihn herunter.

Ja, damit wäre es nun auch bald vorbei, meint Alexander Gerst auf der Bühne. Der Weltraum sei einer der letzten Orte, in denen Russland noch mit dem Westen zusammenarbeite – aber nur noch bis 2028. Das gleiche gelte für die Starts von Sojus-Raketen von Baikonur. In Zukunft solle das nur noch SpaceX übernehmen.

Im Saal wird es still. Ich bin zwar inkognito hier, aber ganz zum Schluss traue ich mich, eine Frage zu stellen: „Jetzt, wo sie diese Reise gemacht und die Erde aus dem Weltraum gesehen haben – Gibt es etwas, das Sie der Menschheit gerne sagen würden?“

Alexander Gerst: „Passt drauf auf!“
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